Donnerstag, 11. August 2016

Leseprobe - Wenn die toten Kinder weinen



 Erschien 2013 als Zahltag — Thriller

Leseprobe:

Spannender Psychothriller um die unendliche Liebe zu einem Kind und die Folgen einer Verzweiflungstat.

Was würdest du tun?
Wie weit würdest du gehen?
Würdest du für dein Kind töten?
Oder hast du es bereits getan?

Diese Fragen muss sich Wolfgang Moser stellen, als sein Leben eine dramatische Wendung nimmt und seine Vergangenheit ihn einholt.

Wolfgangs Leben verändert sich radikal, als sein 14-jähriger Sohn Alexander nicht mehr nach Hause kommt. Es vergeht ein Jahr und Alexander bleibt verschwunden. Seine Frau zerbricht daran und nimmt sich das Leben. Und dann kommt eine Nachricht …




Moldawien — Februar 2002


Es schneite fürchterlich und war eiskalt. Mila, Yelena und Vitali saßen eng aneinander gekuschelt in einem leer stehenden Gebäude. Nur Mila hatte Handschuhe an, in denen auch die Hände von Yelena steckten. Seit vier Tagen war es nun schon so schrecklich kalt. Der Wind pfiff durch die eingeschlagenen Fensterscheiben. Keiner sprach ein Wort. Sie zitterten, ihre Lippen waren blau angelaufen und die Gelenke fühlten sich steif an. Seit Tagen hatten sie keinen Menschen mehr auf den Straßen gesehen. Niemand gab ihnen etwas zu essen, denn die meisten mussten selber Hunger leiden. In dieser Zeit waren weder Touristen in der Stadt Kischinau noch ehrenamtliche Helfer. Mehrmals die Woche kamen normalerweise die Mitarbeiter der verschiedenen Hilfsorganisation, doch in dieser Woche war noch kein Wagen zu sehen gewesen. Auch das schwarze Auto war nicht mehr gekommen — das war gut. Olav wurde letzte Woche geholt, davor war es Elena. Angst ging um, unter den Straßenkindern. Doch niemand wollte in das Heim zurück. Es war ohnehin überfüllt. Sie würden nur wieder Prügel kassieren und das wollte keiner. Jetzt im Winter war es hart, keine Eltern zu haben. Na ja, eigentlich hatten sie ja alle Eltern. Sie waren nicht tot, sie waren weggegangen. Schon vor Jahren. Milas Mutter wollte sie nachholen, doch sie kam nicht. Irgendwann holte man Mila von ihrer Großmutter ab und sie wurde in ein Kinderheim hier in Kischinau gebracht. Kein Jahr hielt sie es dort aus. Jetzt aber war sie noch tiefer gesunken. Was würde wohl noch alles geschehen, bevor es zu Ende ging?

Deutschland — Sommer 2011


Wolfgang Moser war in Eile. Er sprintete aus seinem Büro, das er sich mit seinem Kollegen und Freund Max Richter teilte. „Ich bin dann mal weg. Bis nächste Woche.“

Er musste sich beeilen. In einer Stunde sollten sie bei seinen Schwiegereltern sein und seine Frau Brigitte wollte schon längst los. Die Fahrt alleine würde schon eine Dreiviertelstunde dauern — zum Umziehen war keine Zeit mehr. Im Laufen drückte er den Schlüsselknopf seines Porsches und hörte das Klacken der Türen. Die Sonne blendete ihn und erst jetzt viel ihm auf, welch ein schöner Sommertag herrschte.
Er drängte sich durch den abendlichen Verkehr und nahm seine Krawatte ab. Sein Handy meldete sich.
„Ich bin unterwegs. Warte vor der Tür. In zehn Minuten bin ich da.“ Seine Frau war wütend. Die Fahrt dauerte eigentlich nur ein paar Minuten, doch der Verkehr in die Innenstadt zog sich jedes Mal lange hin. Nur langsam kam er auf der Brücke voran.
Der Inn lag unter ihm und er sah hoch zur Maria-Hilf-Kirche. Früher waren seine Frau, sein Sohn Alexander und er oft hoch spaziert und hatten den Blick über die Dreiflüssestadt genossen. Passau war eine alte, sehr schöne Stadt. Doch oft dachte er nicht darüber nach. Zu viele Probleme hatte er in letzter Zeit. Nicht erst in letzter Zeit, eigentlich hatte er sein ganzes Leben lang Probleme gehabt. Ja, er hatte schon immer viel Geld besessen, doch das Glück hatte ihn nie wirklich gefunden. Vielleicht war er einfach auch zu undankbar, sah das Glück vor der eigenen Türe nicht. Vielleicht aber war es auch schlicht nicht da. Er sah Jugendliche auf der Inn-Wiese sitzen und dachte an seinen Sohn. Dieser entwickelte sich zu einem Punk, was Wolfgang überhaupt nicht passte. Mit seinen Freunden verbrachte er die Nachmittage mit Faulenzen und Trinken am Inn, genauso wie diese Jugendlichen heute. Seine Haare waren mal blau, mal rot oder pink und er lackierte seine Nägel. Seine Frau hatte damit ebenfalls ihr Probleme, doch durch ihren Tablettenkonsum bekam sie ohnehin nicht viel von Alexander mit. Seit Jahren kämpfte sie gegen Depressionen und Angstzustände. Zweimal im Monat ging sie zum Psychiater, doch nichts half. Wolfgang wusste oft nicht mehr weiter.
Endlich kam der Verkehr wieder ins Rollen und es dauerte nicht lange, da bog er in die Mühltalstraße ein. Sie besaßen ein kleines Häuschen, das Wolfgang über alles liebte. Von Weitem sah er Brigitte schon vor dem Haus stehen. Ihr säuerlicher Blick war unübersehbar, doch da musste er jetzt durch.
„Wo bleibst du? Weißt du, wie spät es ist?“
„Ja, ja. Steig ein. Wir schaffen es noch.“
„Meine Schwester ist längst da.“
Wolfgang verdrehte die Augen. Wie ihn das alles ankotzte. Ihre Schwester Beate war alleinstehend, hatte keine Kinder und war frustriert, seit er denken konnte.
„Du wirst sicherlich nichts verpassen.“
Brigitte sagte nichts darauf, sondern sah aus dem Fenster. Wolfgang sollte es recht sein, sie zeigte ihm ohnehin nur noch die kalte Schulter. Wann der Bruch in ihrer Ehe gekommen war, das wusste er nicht mehr genau. Es war ein schleichender Prozess. Brigitte wünschte sich ein zweites Kind, doch das wollte nicht klappen und daraufhin fiel sie in eine Depression. Das war bereits vor zehn Jahren. Als sie sich endlich wieder ein wenig gefangen und einen Halbtagsjob bei einer kleinen Zeitung ergattert hatte, war plötzlich Alexander schwer erkrankt. Wolfgang dachte nicht gerne an diese Zeit zurück, denn sie war überstanden.
„Wie war dein Tag?“ Wolfgang versuchte die Stimmung etwas zu heben.
„Was denkst du?“ Wie er das hasste, wenn sie mit Gegenfragen kam.

„Was hast du gemacht?“
„Interessiert dich das wirklich?“
„Würde ich sonst fragen?“ Langsam wurde auch er aggressiv. Alles was er tat oder sagte war falsch. Also schwieg er wieder und sie blieb ihm die Antwort schuldig.

Wie erwartet saßen alle bereits am gedeckten Tisch. Brigittes Vater Anton fing sofort ein Gespräch mit Wolfgang an. Er war sein einziger Schwiegersohn und er mochte ihn sehr.
„Wo ist Alexander?“, fragte Hildegard, die Mutter von Brigitte.
Wolfgang hörte nur nebenbei zu, was seine Frau antwortete. Sie verteidigte ihren Sohn, er müsse lernen. Wolfgang verdrehte die Augen. Er wusste, dass er das nicht tat. Sicherlich hing er wieder mit seinen Freunden herum. Anton wollte ihm etwas im Garten zeigen und beide gingen hinaus. Währenddessen unterhielten sich die Frauen über den neuesten Klatsch in der Verwandtschaft.

Nach drei endlosen Stunden ging der Abend endlich zu Ende. Wolfgang und Brigitte verabschiedeten sich und stiegen ins Auto. Es war ein sehr lauer Abend, der Mond verbreitete ein angenehmes Licht.
„Bist du noch sauer?", fragte Wolfgang.
„Ich fühle mich allein, Wolfgang.“ Brigitte starrte immer noch aus dem Fenster.
Er wusste, dass sie größere Probleme hatte, als er sich eingestand. Sie kam nicht damit zurecht, dass sie kein zweites Kind mehr bekamen. Er verstand sie einfach nicht. Sie hatten doch so viel Glück, dass sie Alexander hatten.
„Ich bin doch immer bei dir, Schatz.“ Doch er wusste, dass sie das nicht tröstete. Es stimmte auch nicht, denn schon vor Jahren hatte er sich von ihr abgewandt und sich Hals über Kopf in eine Affäre mit einer 25-jährigen Studentin gestürzt. Er wusste nicht, wie das geschehen konnte, doch es war so überwältigend, so überraschend, dass er unfähig war, sich dagegen zu wehren — eigentlich wollte er das auch gar nicht. Sie machte ein Praktikum bei ihm und sah umwerfend aus. Sie wusste genau , was ein Mann wollte, und Wolfgang genoss es jede Sekunde. Er war nur noch selten zu Hause, übersah die Veränderung seines Sohnes und kümmerte sich nicht mehr um Brigitte. Sie bemerkte es — natürlich. Es war unübersehbar. Wolfgang war wieder jung, er fühlte sich gut, sexy und wertvoll. Die traurigen und harten Zeiten seiner Ehe vergaß er während der zärtlichen Stunden mit Charlotte. Diese allerdings war nach einem Jahr wieder aus seinem Leben verschwunden. Sie ging nach Berlin, wollte die große Welt kennenlernen, nicht im kleinen Passau hängen bleiben. Er konnte sie verstehen. Als er nach diesem Jahr aufwachte, aus einem Zustand der Trance, bemerkte er, was er übersehen hatte: Sein Sohn war in der Pubertät, trank Alkohol und war nahe dran von der Schule zu fliegen. Seine Frau nahm immer mehr Tabletten und heulte sich in den Schlaf. Wie konnte er so blind sein? Was war geschehen? Er wollte seine Ehe retten und gemeinsam gingen sie zu einer Ehe- und Familienberatung. Alexander war davon wenig begeistert und blieb den Sitzungen meist fern — sie konnten ihn schließlich nicht zwingen.

Die Fahrt nach Hause verlief schweigsam. Als sie die Mühltalstraße hochfuhren, sahen sie, dass kein Licht im Haus brannte.
„Ist er immer noch nicht zu Hause?“ Brigitte war sauer.
„Ruf ihn doch mal auf dem Handy an.“
„Ja, das werde ich auch tun. Ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Jungen machen soll.“
Wolfgang sagte dazu lieber nichts, es wäre ohnehin falsch gewesen. In Erziehungsfragen waren sie sich noch nie einig gewesen. Doch Brigitte hatte Recht. Wenn das so weiterging, würde er noch auf die schiefe Bahn geraten und das wollten sie beide nicht.
„Nichts, er geht nicht ran.“
„Der wird gleich kommen.“
Wütend schlug Brigitte die Tür des Wagens zu.

Sie warteten bis zwei Uhr nachts, bevor sie die Freunde von Alexander anriefen. Brigitte schämte sich zu so später Stunde bei den Eltern anzurufen, also musste es Wolfgang über sich ergehen lassen. Niemand wusste etwas. Alle anderen Jugendlichen waren zu Hause.
Um fünf Uhr morgens verständigten sie dann die Polizei. Passau war ein kleines Nest, im Gegensatz zu den deutschen Großstädten, und demnach kamen nach dem aufgebrachten Anruf von Brigitte gleich zwei Polizeibeamte direkt zum Haus der Mosers. Es wurde nicht wie üblich 24 Stunden gewartet. Auch wenn die beiden Polizisten davon ausgingen, dass Alexander bald wieder auftauchen würde, wirkten sie sehr engagiert. Brigitte gab alles weiter, was sie wusste: Welche Kleidung ihr Sohn trug, wann er das Haus verlassen hatte, mit wem er Kontakt hatte … Wolfgang wusste nichts von diesen Dingen. Er war heute schon früh aus dem Haus gegangen und hatte Alexander nicht gesehen. So war es fast jeden Tag.
Als die Beamten nach einer Stunde wieder gingen, machte sich Brigitte eine Flasche Wein auf und nahm zwei Pillen. Wolfgang wollte etwas sagen, doch er tat es lieber nicht. Mehrfach versuchte er seinen Sohn auf dem Handy zu erreichen, doch er hatte keinen Erfolg.

Gegen Mittag machte sich dann auch Wolfgang größere Sorgen. Sie durchsuchten gemeinsam sein Zimmer, das aussah, als wäre der Dritte Weltkrieg ausgebrochen. Außer ein paar Pornos fanden sie nichts Interessantes. Auf dem Computer waren keine Gewaltspiele, nichts Verwerfliches. Sie fanden einige Gedichte und Geschichten in einem kleinen blauen Buch, die sie heute das erste Mal zu Gesicht bekamen. Wolfgang las die Texte mehrmals und war erstaunt. Niemals hätte er angenommen, dass Alexander schrieb. Die Texte ähnelten einem Tagebuch und die Gedichte handelten von Liebe und Schmerz. Hatte Alexander vielleicht eine Freundin und er wusste es nicht? Nein, schnell verwarf Wolfgang den Gedanken. Sie hätten sicherlich ein Foto gefunden oder irgendetwas auf seinem PC, doch da war nichts.
„Schau mal.“ Brigitte sah ihren Mann verzweifelt an und hielt die Spardose nach oben.
„Was?“
„Er hat sein Geld nicht mitgenommen. Meinst du, er würde fast 300 Euro hier lassen, wenn er vorhätte abzuhauen?“
Seine Frau brach in Tränen aus und sank zu Boden.
Wolfgang setzte sich neben sie und legte ihr die Arme um die Schultern. Das erste Mal seit Jahren berührte er seine Frau auf zärtliche Art.
„Er wird schon wieder auftauchen. Vielleicht hat er einfach die Nacht durchgefeiert und kommt gleich mit einem Kater nach Hause.
„Ohne seine Freunde? Das glaubst du doch selbst nicht.“
Ihr Ton gefiel Wolfgang nicht. Sie gab ihm die Schuld, das merkte er schnell. Aber wieso? Sie waren beide beim Abendessen gewesen und er war schon öfters abends weggeblieben. Aber das war Brigittes Art. Sie gab für alles, was schief lief, Wolfgang die Schuld.

Im Laufe des Tages hatten sie alle seine Freunde angerufen, die Schule, Verwandte und Bekannte — niemand wusste etwas von ihm. Sein bester Freund Pierre, der ebenfalls in der Punk-Clique war, hatte ihn zuletzt um acht Uhr im Uferlos gesehen. Sie hatten nur eine Cola getrunken und wollten dann beide nach Hause. Wolfgang konnte es nicht glauben, dass sich sein Sohn in einer Kneipe rumtrieb. Er war noch nie betrunken nach Hause gekommen. Vielleicht trank er mal ein oder zwei Bier, aber ansonsten wäre Wolfgang nie etwas aufgefallen, was nicht normal war. Bis auf die Tatsache, dass er sich wie ein Punk verhielt.
Das Telefon riss beide aus ihren Gedanken. Es war Brigittes Mutter, die wissen wollte, ob es etwas Neues gab. Brigitte deutete Wolfgang an, dass sie nicht mit ihr reden wollte.
„Nein, es gibt bisher nichts Neues. Wir melden uns, sobald wir was erfahren.“ Dann legte Wolfgang auf.
Die Stunden vergingen und nichts passierte. Am Abend kamen erneut zwei Polizeibeamte und ein älterer Beamter von der Kripo. Da Alexander erst vierzehn war, wurde ein Sondereinsatzkommando ins Leben gerufen. Nun bekam auch Wolfgang Panik. Seine Frau hatte bereits am Nachmittag ein Beruhigungsmittel bekommen und schlief tief und fest. Wolfgang schwitzte fürchterlich und konnte einfach nicht glauben, dass Alexander nicht aufgetaucht war.

Nach vierundzwanzig Stunden wurden die Medien eingeschaltet und in einer kleinen Stadt wie Passau war es das Gesprächsthema Nummer eins. Wolfgang nahm sich Urlaub und blieb zu Hause. Täglich kamen Freunde von Alexander vorbei, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er fühlte sich schlecht, da er so wenig von seinem Sohn wusste. Unbekannte Menschen gingen ein und aus und er wusste bald nicht mehr, wo ihm der Kopf stand.
Schlimmer wurde es allerdings, als der Rummel nachließ. Als sich immer weniger Freunde meldeten, als die Suche schließlich fast eingestellt wurde. Das Gefühl, nicht zu wissen wo das eigene Kind ist, zerfrisst einen. Brigitte lag wochenlang im Bett, es war ihr unmöglich aufzustehen. Wolfgang blieb nichts anderes übrig, als ihre Mutter zu bitten ihm zu helfen. Als Alexander vier Wochen vermisst wurde, zog also seine Schwiegermutter bei ihnen ein. Er versucht wieder zu arbeiten, doch es funktionierte nicht und er wurde beurlaubt.

Hier geht es zu Teil zwei! Zahltag Teil 2

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