Neuanfänge – Drei Jahre später
Anna (vier Monate vor ihrem Tod)
Sie hatte ihn im Internet kennengelernt. Er war auf einer dieser Selbstmordplattformen, genau wie sie selbst. Sie chattete schon länger mit ihm, wochenlang, er war ihr Halt. Der Einzige, den sie noch hatte. Er war der Onlinepsychiater. Keine zerstörte Seele wie sie. Zuerst ging es ihr besser, dann so schlecht wie nie. Aber ohne seine Worte konnte sie nicht mehr leben. Sie haderte schon seit Jahren mit ihrem Schicksal, und er hatte erkannt: Sie war sterbenskrank. Nicht so krank wie ein Krebskranker, sondern ihre Seele war krank. Sie wusste es nun, dank ihm. Tage waren seit dem letzten Chat vergangen. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört. Vermutlich hatte er kein Interesse mehr an ihr. Sie zog es ja doch nicht durch. Er konnte ihr nicht helfen, wie er schon öfter betont hatte. Jetzt war sie also ganz allein, denn seit sie ihn kannte, hatte sie keinerlei Kontakte mehr zu Freunden oder Bekannten gepflegt. Auch nicht mehr zu ihrem Vater, der es vermutlich nicht mal bemerkte, dass sie sich nicht meldete. Über ein Jahr war seit dem ersten Zusammenbruch vergangen. Es war ein heißer Sommertag, sie fühlte sich schon länger schwach. An diesem Tag hatte sie eine Vorlesung in der Uni besucht, bis sie schweißgebadet das Gebäude verlassen hatte. Atemnot, Herzrasen. Ihr war schwarz vor Augen geworden, dann war sie umgekippt. Ein Krankenwagen war gerufen worden. Sie hatten sie unbedingt mitnehmen wollen, aber sie hatte sich geweigert. Nach einer Stunde am Tropf im Krankenwagen war sie nach Hause gegangen. Sie hatte den netten Helfern versprochen, sie würde zum Arzt gehen. Anfangs hatte sie gedacht, es wäre nur ein Kreislaufproblem wegen der Hitze gewesen. Aber so war es nicht. Der Schwindel war über Monate geblieben, sie hatte sich schlecht gefühlt, war nicht mehr zur Uni gegangen und hatte die meisten Tage verschlafen. Ihre ohnehin wenigen sozialen Kontakte hatte sie abgebrochen. Sie hatte keine Mutter mehr und nie wirklich einen Vater gehabt. Familie war ein Fremdwort gewesen. Das Internet war ihr neuer Freund geworden. Und dann war ihre Welt zusammengebrochen. Sie hatte sich wirklich mal aufgerafft und war zum Arzt gegangen. Wollte endlich wissen, was mit ihr los war. Die erschütternde Nachricht war einige Tage nach dem Termin in der Klinik gekommen, in die sie vom Hausarzt überwiesen worden war, der nichts hatte finden können. Ein Anruf, der alles verändert hatte, denn: Sie hatte nichts. Rein gar nichts. Es war nichts gefunden worden. Ihre Werte waren allesamt sehr gut. Für sie war eine Welt zusammengebrochen, obwohl jeder andere Mensch vermutlich glücklich darüber gewesen wäre. Sie war es nicht. Sie sehnte sich nach etwas anderem. Nach etwas, das man nicht so leicht haben konnte. Nämlich den Tod. Und der Onlinepsychiater hatte ihr das gegeben, was sie gebraucht hatte. Eine Bestätigung, dass sie krank war. Sie schien eine bipolare Störung zu haben und zudem noch schwer depressiv zu sein. Sie glaubte ihm, er war ja Psychiater. Wenn auch nur im Internet. Aber er hatte ihr erklärt, dass viele Menschen sich schämten, einen Psychiater aufzusuchen, deshalb bot er seine Dienste im Internet an, anonym. Auch das hatte Anna nicht stutzig gemacht, denn sie war froh gewesen, einen Menschen zu haben, der ihr half.
Und dann war der Tag gekommen, der ihre Welt für immer ändern sollte.
Seit Tagen hatte sie also nichts mehr von ihrem Psychiaterfreund, dessen Initialen »E. S.« lauteten, gehört. Sie war so wütend, denn er reagierte weder im Chat noch auf E-Mails. Sie war sauer und so tat sie etwas, das sie schon lange nicht mehr getan hatte. Sie ging aus dem Haus.
Ihr Magen fühlte sich flau an, als sie die Treppen von ihrer Wohnung aus nach unten ging. Sie hatte Angst vor der Welt und den Menschen da draußen. Aber ihre Wut auf alles und jeden gab ihr Kraft. Die Sonne tat ihr unendlich gut. Sie lachte sogar ein paarmal, als sie im Gras im Park saß und die ihr fremden Menschen beobachtete.
Es war ein angenehm warmer Tag, den sie liegend im Park verbrachte und die Zeit vergaß. Sie dachte den ganzen Tag nicht mehr an ihre Angst und ihren Psychiater. Sie träumte vor sich hin. So wie als Kind. Als sie noch eine Mutter hatte und ihr Vater noch nicht verrückt geworden war. Aber das war viele Jahre her. Sie beschloss – auf dieser warmen Wiese, an diesem Sommertag –, sie würde ihr Leben ändern. Ein für alle Mal. Sie würde sich mit ihrem Vater aussprechen und Hilfe annehmen. Das hätte sie längst tun sollen. Erst jetzt wurde es ihr klar.
Anna musste kurz eingenickt sein, denn als sie erwachte, fing es bereits an zu dämmern. Es war halb zehn und nur noch wenige Menschen waren im Park unterwegs. Aber sie verspürte immer noch Mut. Mut, ein neues Leben in Angriff zu nehmen. Sie würde ihr Studium, das ihr ohnehin keinen Spaß machte, abbrechen und hier aus dieser Stadt wegziehen. Sie hasste die Großstadt. Hatte nur ihrem Vater eins auswischen wollen, als sie vor einigen Jahren nach dem Abi nach München gezogen war.
Anna war voller Vorfreude, voller Tatendrang. Sie war so sehr in ihren Gedanken vertieft, dass sie die Schritte hinter sich nicht hörte. Sie war in einem kleinen Waldstück, dessen Weg zurück zur Bushaltestelle führte. Niemand war zu sehen. Sie hörte nichts, war nur in Gedanken und lächelte, zum ersten Mal seit Jahren, wieder vor sich hin.
Aber es war zu spät, sie konnte dem nicht mehr ausweichen, der sie ins Visier genommen hatte. Aber das wusste sie erst Minuten später.
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