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Prolog
Ich halte den Eisbrocken immer noch fest in
meiner Hand und starre zu meinen Füßen, doch ich sehe nicht das, was vor mir
liegt, sondern weile in der Vergangenheit, bei meiner Frau, damals, als noch
alles gut war.
Es war im Hochsommer vor zwölf Jahren, als ich
meine Frau heiratete. Ganz traditionell, bürgerlich, spießig, mit Familie und
Freunden. Ich erinnere mich noch genau, sie war so zierlich und zart wie eine
Blume. Sie himmelte mich an und ich vergötterte sie. Wir waren fast zwei Jahre
zusammen, bevor wir den Schritt vor den Traualtar wagten. Ich war mir sicher,
sie war die Frau meines Lebens. Ich würde sie immer begehren, lieben und
anbeten. Mein Herz pochte, als sich die Kirchentür öffnete und sie auf mich
zukam. Die Kirche war voll, alle staunten, wie schön und elegant meine Braut
war. Und ich konnte meine Tränen kaum zurückhalten. Nie werde ich den sanften
Kuss vergessen, den wir uns nach dem Jawort fast nur zuhauchten. Es war ein
ängstlicher, nervöser Kuss, doch von großer Bedeutung.
Und nun stehe ich hier, starre auf eine Leiche,
vor mir das ewige Meer, hinter mir mein Untergang.
Was hat sie nur hierher verschlagen, meine
liebenswürdige, schöne Frau? Oder wer hat sie hierhergelockt? Er war es. Der
Mann, der nun tot vor mir liegt. Und wenn ich dachte, ich wäre stark, so merke
ich nun, ich bin es nicht. Wie konnte ich nur zuschlagen?
Teil 1:
Heute
Norwegen, Winter 2017
Maria
Ich sehe einen blonden Jungen. Er läuft durch den dichten,
schneebedeckten Wald. Springt über Äste und Steine. Ich höre seinen Atem, denn
er läuft immer schneller. Er schreit um Hilfe, läuft vor irgendwem davon. Ich
will ihm was zurufen, doch ich habe meine Stimme verloren. Der Wald wird immer
dichter und ich sehe den Jungen fast nicht mehr, ich verliere ihn. Panisch sehe
ich mich um, niemand ist hier, keiner kann mir zu Hilfe eilen. Ich muss
schneller laufen, ihn einholen, ihn beschützen, obwohl ich nicht weiß, wovor.
Und dann plötzlich steht er vor mir, dreht sich um und jetzt schreie ich. Denn
das, was ich sehe, kann nicht der Wirklichkeit entsprechen.
Ich schrecke aus diesem Alptraum auf, der mir auch Minuten nach dem
Erwachen noch eine Gänsehaut verursacht. Ich wische mir mit der Hand über die
Stirn und spüre den nassen Schweiß, als hätte ich Fieber. Ich atme tief ein und
aus, ehe ich aus dem Bett steige und den kalten Boden berühre. Wir schlafen mit
halb offenem Fenster, auch im Winter. Seither schlafe ich besser, doch das
morgendliche Aufstehen wird dadurch nicht einfacher. Schnell ziehe ich mir
meinen lila Bademantel mit dem süßen Teddy auf dem Rücken über und husche zur
Tür hinaus. Ich will nach meinem Finn sehen, denn der Traum würde mich nicht
mehr schlafen lassen, würde ich mich nicht vergewissern, dass alles in Ordnung
ist. Ich sehe immer noch das verängstigte Gesicht meines Sohnes vor mir. Er war
schweißgebadet und starrte mich aus toten, leblosen Augen an.
Mir ist durchaus bewusst, dass es nur ein Traum war. Ich schüttle den
Kopf und öffne die Tür, die ins Zimmer meines sechsjährigen Sohnes führt. Finns
Nachttischlampe brennt noch, und sofort höre ich seinen Atem und eine enorme
Last fällt mir von den Schultern. Ich setze mich auf die Kante seines Bettes,
das sein Vater für ihn selbst gebaut hat, und streichle ihm zärtlich über seine
weißen Haare. Ich liebe diesen Jungen mehr als mein eigenes Leben und würde für
ihn sterben. Ich danke Gott täglich dafür, was für ein tolles Leben er mir
geschenkt hat, und bin mir dessen bewusst, dass es auch anders hätte ausgehen
können.
Ich beschließe, nicht mehr ins Bett zurückzugehen, sondern die Brotzeit
für unseren Ausflug vorzubereiten.
Zwei Stunden später sitzen wir alle drei in unserem Auto. Ich schließe
die Augen und genieße die Ruhe, die im Moment herrscht. Mein Sohn Finn schläft
und mein Mann scheint in sich gekehrt zu sein, während er steuert.
Und da sind sie wieder, diese verbotenen Gedanken an einen anderen Mann,
die ich nie hätte haben dürfen, die aber immer dann auftauchen, wenn ich
entspannt bin. Ich gehe dann in mich, Jahre zurück in meine Vergangenheit. Ich
spüre ihn dann. Wie er mich berührt. Spüre seinen Atem auf meiner Haut, rieche
ihn, bin eins mit ihm. Ich weiß, dass ich diese Gedanken nicht haben darf,
nicht haben sollte. Ich weiß, sie werden mich irgendwann zerstören, diese
Erinnerungen an die Person, die mein Untergang sein kann.
Dann öffne ich die Augen und die Helligkeit lässt mich blinzeln. Manchmal
ist es so finster hier in Norwegen, dass ich in eine tiefe Depression falle.
Aber heute, so wie jetzt, wenn ich die Augen öffne und den weißen Schnee vor
mir sehe, dann tut mir dieses Strahlen richtig gut. Es ist nicht so, dass ich
Norwegen nicht mag. Es ist eher so, dass ich mich manchmal nach wärmenden
Sonnenstrahlen, nach Meer, nach Salz auf meiner nackten Haut sehne. Aber mein
Mann hasst die Wärme, den Süden, einfach alles, was nicht Norwegen ist. Anfangs
hat mir diese Heimatverbundenheit gefallen, doch nach den vielen Jahren bin ich
es leid, meine Urlaube nur im hier im Norden zu verbringen. Aber ich sage
nichts. Ich habe nicht das Recht, mich zu beschweren. Nicht in meiner
Situation, nicht nachdem, was passiert ist.
Ich muss vielmehr dankbar sein. Darüber, dass ich einen gesunden Sohn
habe. Darüber, dass ich überhaupt noch ein Leben habe. Und das bin ich auch.
Ich bin nicht nur dankbar, manchmal bin ich sogar glücklich. Aber nicht mehr so
oft. Nicht mehr so, wie ich es eigentlich sein sollte.
Vielleicht ist es die Schuld, die auf meinen Schultern liegt, oder der
Schmerz über den Verlust, den ich durch die Schuld erleiden muss. Ich habe
keine Ahnung. Auch habe ich keine Wahl, denn ich muss weitermachen. Und für
Finn lohnt es sich allemal, hierzubleiben. Hier zu leben. Freunde zu haben.
Eine perfekte Familie darzustellen. Es lohnt sich. Für Finn.
Finn ist genauso wie sein Vater. Er hat helles, ja beinahe weißes, sehr
feines Haar. Er ist groß, schlank, muskulös und liebt die Natur mehr als alles
andere. Er geht mit meinem Mann Gustav auf die Jagd, in die Berge, Campen und
Eisfischen. Er liebt Eishockey und hasst es, in vier Wänden eingesperrt zu
sein. Selbst wenn es draußen eiskalt ist, er bleibt nicht daheim. Er muss etwas
tun, das ist sein Leben. Und manchmal, auch wenn ich es nie laut aussprechen
würde, ist er mir so fremd, als wäre er nicht aus meinem Körper gekommen. Er
ähnelte mir noch nie. Weder von seinem Wesen noch vom Aussehen. Als er ein Baby
war, hatte er schon so viel Temperament, dass ich oft überfordert war. Aber ich
liebe ihn, mehr als alles andere auf der Welt.
Kurz drehe ich mich um, sehe meinen schlafenden Sohn, der mir geschenkt
wurde, der mein ganzer Stolz ist, und lächele.
Wir sind auf dem Weg zum Eisfischen und ich komme ausnahmsweise mit, denn
ich weiß, dass es meinen beiden Männern viel bedeutet, wenn ich sie bewundere
und mich über die Fänge freue. Und das tue ich auch.
„Was ist mit dir? Du bist so still heute.“
Ich sehe zu meinem Mann und lächele, denn jetzt in diesem Moment erkenne
ich, wie froh ich doch sein kann, so einen liebenswürdigen Mann gefunden zu
haben.
„Was ist?“, fragt er mich und zieht seine dichten Augenbrauen nach oben.
Dabei denke ich mir, wie alt er doch geworden ist.
„Es ist alles gut, Liebling. Ich freue mich, mit euch unterwegs zu sein,
das ist alles.“
„Wir uns auch“, und während er das sagt, legt er seine Hand auf meinen
Oberschenkel und ich spüre, dass ich ihn liebe.
Wir machen eine kleine Pause auf einem Rastplatz, der etwa auf halbem Weg
unserer kleinen Reise liegt. Eine Stunde sind wir unterwegs, und wir brauchen
eine kleine Stärkung. Finn springt aus dem Auto und sieht sich um. Ich
beobachte ihn. Seinen Drang, sich zu bewegen. Wüsste er nicht, dass am Ende der
Fahrt das Eisfischen auf ihn wartet, würde er quengeln. Das ruhige Sitzen im
Auto nervt ihn, aber im Laufe der Jahre hat er endlich verstanden, dass die
ganze Nörgelei doch nichts bringt. Ich umarme ihn und er drückt mich weg. So
ist es immer.
„Mom. Ich bin kein Baby mehr“, sagt er und schüttelt dabei den Kopf, als
wäre es unerhört, was ich getan habe.
„Ich geh mal zur Toilette“, sagt mein Mann.
„Ich komme mit, Daddy“, und schon sind meine Männer verschwunden. Ich
sehe sie noch um das kleine Gebäude gehen.
Ich betrete die kleine Tankstelle und werde freundlich von einer jungen
Dame begrüßt, während ich auf die Zeitungen zusteuere. Ich brauche irgendetwas
zu lesen, denn das Fischen wird für mich lange und ermüdend werden. Ich sehe
mir einige Zeitungen durch, auch wenn ich mich mit Norwegisch immer noch etwas
schwertue. Das meiste kann ich mir zusammenreimen. Ich schnappe mir eine
Klatschzeitung und dann fällt mir das Datum auf und ich erstarre. Ich presse
die Augen zusammen, will dieses Datum nicht sehen, will diesen Tag aus meinem
Leben verbannen. Ich habe doch ganz vergessen, dass es heute war. Die letzten
Jahre habe ich mich schon Wochen vor diesem Datum geängstigt. In diesem Jahr
habe ich es wohl vergessen, zum ersten Mal. War das nun gut oder nicht? Ich
weiß es nicht. Schnell lege ich die Zeitung zurück und stürze aus dem Laden.
Ich brauche frische Luft, denn die Bilder, die sich nun erneut vor meinem Kopf
abspielen, lassen mich kreidebleich werden. Wie kann ich diesen Tag vergessen?
Was bin ich nur für ein Mensch?
Und Gustav, wieso hat er nichts gesagt? Wieso ist er nicht dort? Wieso
heute dieser Ausflug? Ich verstehe plötzlich nichts mehr.
Ich atme die eiskalte, frische Luft ein, sauge sie in meine Lungen auf
und bemerke, dass ich zittere. Ich sehe mich um, doch niemand ist da. Ich muss
mich setzen, aber nicht hier. Ich eile ins Auto und versuche durchzuatmen. Ich
schließe erneut die Augen, atme ein und aus. So wie man es tut, um sich zu
beruhigen. Man atmet einfach weiter. Egal was passiert, man atmet weiter.
Als ich die Augen öffne, sehe ich meinen Mann und meinen Sohn, sie kommen
aus dem Laden. Sie haben sich etwas gekauft. Finn hält Schokolade in der Hand
und mein Mann hat einen Kaffee, der noch dampft in der Kälte. Ich reiße mich
zusammen. Heute Abend werde ich Gustav darauf ansprechen. Nicht jetzt. Nicht
vor Finn.
Ich
fühle mich die restliche Fahrt über beklommen und meinem Mann so fremd. Er hat
mit keiner Silbe erwähnt, was heute für ein Tag ist. Hat er vielleicht erwartet,
dass ich etwas sage? Ist er nun enttäuscht? Ich hätte diesen Tag nicht
vergessen dürfen, verdammt.
Aber Gustav scheint nicht bedrückt, sondern gut gelaunt zu sein. Er
scheint sich auf den Tag zu freuen und Finn redet die ganze Zeit vor sich hin.
Die Bilder sind so real, als wäre es erst gestern gewesen. Auch wenn ich
versuche, die grausamen Bilder zu verbannen, sie kommen immer wieder. Erst als
wir aussteigen und ich die vielen Menschen sehe, den See, die Angler, die Hunde
und die Geräusche höre, werde ich wieder ruhiger. Der Lärm lenkt ab. Er lässt
einen für einen kurzen Moment die eigene Stille im Körper vergessen. Die Angst,
gelähmt zu sein, vergeht und ich lenke mich ab. Ich spreche mit den Frauen, die
mitgekommen sind, denn Gustav und Finn sind nicht mehr zu sehen. Und das wird
sich vermutlich den Tag über nicht ändern, denn sie haben zu tun. Wieso auch
nicht? Sie dürfen glücklich sein, denn sie tragen keine Schuld in sich. Und
werden vermutlich auch nie welche in sich tragen, denn sie sind gute Menschen.
Anders als ich.
Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, denn das Eisfischen läuft für die
Angler prima. Ich freue mich, denn das Strahlen meines Sohnes lässt mich diesen
Tag überstehen. Und morgen würde die Welt doch wieder etwas besser aussehen.
Das hoffe ich zumindest.
Es ist schon wieder dunkel, obwohl es erst später Nachmittag ist. Über
all die Jahre habe ich mich an diese Düsternis nicht gewöhnt. Finn und Gustav
macht das nichts aus, aber mir. Ich hasse die Dunkelheit.
Am Nachmittag kommen die Angler langsam alle vom See zurück. Sie sehen
glücklich aus. Auch Gustav ist unter ihnen. Ich winke ihm zu und halte nach
Finn Ausschau, kann ihn aber noch nicht sehen.
„Wo ist Finn?“, fragt mich Gustav, nachdem er mir seinen Fang präsentiert
hat.
„Wieso fragst du, er war doch bei dir?“, frage ich überrascht.
„Nein, er ist schon vor einer halben Stunde zurück. Er sagte, er wolle zu
dir, weil ihm kalt ist.“
„Was? Nein, er ist hier nicht aufgetaucht. Ich war die ganze Zeit über
hier drin. Ich hätte ihn doch gesehen.“ Ich bin zwar erstaunt, aber noch nicht
unruhig. Finn lässt sich leicht ablenken und von Dingen begeistern.
„Er ist sicher noch draußen. Ich sehe nach.“
„Ich komme mit“, schnell schnappe ich mir meine Jacke und folge meinem
Mann. Es sind noch viele andere Fischer und Kinder unterwegs. Doch ich sehe
Finn nicht.
„Finn! Finn, wo steckst du?“, höre ich meinen Mann rufen und ich bemerke
sofort seine Angst in der Stimme. Aber so ist Gustav. Immer gleich in Sorge. Es
dauerte Jahre, bis er Finn endlich mal etwas allein unternehmen lies. Er hat
immer fürchterliche Angst um ihn. Doch in letzter Zeit scheint er mehr
Vertrauen zu entwickeln.
Wir suchen überall. Fragen die Leute, doch auch zehn Minuten später ist
Finn immer noch verschwunden. Die Menschen steuern auf ihre Autos zu, fahren
nach Hause, und das sollten wir auch tun. Wir rennen nun, schreien, rufen nach
ihm. Doch er bleibt auch dreißig Minuten später unauffindbar. Andere helfen
uns, suchen alles ab. Gehen erneut aufs Eis. Kehren aber ohne Finn zurück.
Fünfundvierzig Minuten später fährt der erste Polizeiwagen vor, und ich höre
auf zu atmen.
Noch mal eine halbe Stunde später kommen eine junge Frau und ein großer,
schlanker Mann auf uns zu. Sie stellen sich vor, ich merke mir nur ihre
Vornamen, Tommy und Inga. Sie sind keine normalen Polizisten, tragen keine
Uniform und das macht mir noch mehr Angst. Inga nennt mich auch beim Vornamen,
sie will Vertrauen aufbauen, das merke ich sofort. Doch ich will das nicht. Ich
will, dass Finn wieder vor mir steht.
„Haben Sie ein Foto ihres Jungen bei sich?“, fragt mich Inga und ich
krame nach meinem Handy. Ich zeige ihr die Aufnahmen vom gestrigen Tag. Er
lacht in die Kamera und wirkt so glücklich. Inga sieht sich meinen Finn genau
an, sie prägt ihn sich ein.
„Welche Kleidung trägt Finn im Moment?“ Ich muss nicht überlegen, denn er
trägt seine Fischerkleidung, die ich Inga genau beschreibe.
„Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“
„Als er mit meinem Mann auf den See hinausging. Mit den ganzen anderen
Eltern und ihren Kindern.
Inga nickt und ich habe Angst.
Ich höre hinter mir den anderen Polizisten sprechen. Er redet über das
Eis, über den See. Ich ahne, was er meint, und mein Herz zieht sich zusammen.
„Der See wird von unseren Leuten
abgesucht. Es wird nach Stellen gesucht, in denen er ins Wasser hätte fallen
können, doch das ist unwahrscheinlich. Das Eis ist meterdick, die Löcher zum
Angeln sind winzig, kein Kinderkörper passt da durch.“
Ich will nicht, dass sie so
sprechen, ich will das alles nicht hören. Er ist nicht ertrunken, er ist zwar
erst sechs Jahre alt, aber er kennt sich aus. Weiß, was gefährlich ist und was
nicht. Er kennt die Natur besser als die Stadt. Er würde nicht ertrinken. Nein,
niemals. Aber wo ist er dann?
Nun geht alles schnell. Tommy und Inga lassen niemanden mehr gehen. Der
Parkplatz ist abgesperrt. Jedes Auto wird gecheckt, mit jedem wird gesprochen.
Aber es sind doch schon so viele Leute weg, er könnte in einem der Autos
gewesen sein. Meine Gedanken kreisen nur noch um mein Kind. Alles andere ist
ausgeblendet. Ich höre nicht mehr richtig hin, will einfach nur weg. Nach
Hause, auf mein Sofa. Den Sonntagabend genießen. Fernsehen und kuscheln, mit
Finn. Jetzt fängt es auch noch an zu schneien, die Temperatur sinkt. Wenn er
sich irgendwo verletzt oder sich verlaufen hat, dann würde er erfrieren.
Ich sehe mich um, kann meinen Mann nicht finden. Die Menschen starren
mich mitleidig an, die Frauen versuchen, mich zu trösten. Ich sehe über den See
hinaus, dann drehe ich mich um, sehe den Wald vor mir und hinter mir liegt die
Straße. Wo bist du Finn?
Es ist nun stockdunkel, die Scheinwerfer leuchten, die Menschen werden
immer weniger, denn sie dürfen fahren, sobald ihr Wagen durchsucht und ihre
Personalien aufgenommen wurden. Es ist alles ein reines Durcheinander für mich,
doch Tommy und Inga scheinen alles unter Kontrolle zu haben. Obwohl es eiskalt
ist und ein Sturm aufzieht, machen sich Einsatzkräfte auf den Weg in den Wald.
Ich merke es Tommy und Inga an, sie wollen ihn finden, doch sie scheinen selber
Angst zu haben, dass dieser Sonntag ein Todessonntag wird.
Ich kenne den Schmerz des Verlustes, aber nichts hat mich auf diesen
Moment vorbereitet. Niemand hätte mir sagen können, wie es sich anfühlt, denn
dieses Gefühl kann man niemandem erklären. Es ist wie Fallen, aber ohne
Aufschlag. Wie ein Schock, der nie vergeht. Es ist, als wenn das Herz stehen
bleibt, doch der Körper weiterwandert.
Gustav hat sich dem Suchtrupp angeschlossen, ich hätte auch nichts
anderes erwartet. Auch ich wollte mit, aber mir wurde die Aufgabe zugeteilt,
hier zu warten. Für den Fall, dass Finn wieder auftauchen würde. Eine
Psychologin sitzt neben mir, sagt aber, genauso wie ich, kein Wort.
Wahrscheinlich würde ihre Arbeit erst so richtig beginnen, wenn er tot gefunden
wurde oder wenn er verschwunden blieb. Es ist noch zu früh, um aufzugeben, das
weiß ich. Aber mein Herz sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Etwas ist ganz und
gar nicht mehr heil. Und das ist mein Leben von nun an. Erneut.
Gustav
Gustav sieht, wie die Polizisten alles absperren, wegen Finn. Er
schüttelt immer wieder den Kopf, kann nicht glauben, dass seiner Familie das
passiert. Gustav ist sich sicher, dass Finn sich nicht verlaufen hat, denn der
Junge ist artig, hört auf ihn, weiß, wie gefährlich es nachts allein in der
Natur, in den Wäldern ist.
Was Gustav allerdings nicht sieht, ist die Familie, die gerade schimpfend
in ihr Auto steigt. Er hört nicht, was der Junge zu seinem Vater sagt. Er sieht
nicht, wie verschwitzt der ihm fremde Junge ist, welche Panik in seinen Augen
steht.
„Aber Papa, ich muss dir etwas sagen“, stottert der Junge, der ein blaues
Auge trägt, das er seinem betrunkenen Vater zu verdanken hat.
Er wollte es ihm sagen, doch niemand hörte ihm zu, wie immer.
„Steig ein. Wo hast du so lange gesteckt, verdammt?“, flüstert der Vater,
der nach Whisky stinkt, dem Jungen ins Ohr und packt ihn beim Genick.“
„Aber Papa, bitte. Ich ...“, aber der Vater lässt ihn nicht ausreden. Er
schubst den Jungen in den Wagen, in dem bereits die verängstige Schwester und
die Mutter warten. Dann lässt der Mann den Motor an und entkommt gerade noch
der Absperrung, die die Polizisten nun errichten. Der Junge sieht vom Rücksitz
aus durch die vereiste Glasscheibe, hinauf in die Wälder. Eine Träne rinnt ihm
über das Gesicht, dann flüstert er zu sich selber:
„Es tut mir leid, Finn.“
Gustav, der von diesem Gespräch nichts mitbekommen hat, macht sich auf
den Weg in den Wald, der direkt an den See grenzt. Er begleitet die
Einsatzkräfte, in der Hoffnung, Finn zu finden. Er muss ihn finden, es kann
nicht anders kommen. Es darf nicht so kommen wie damals vor genau sieben
Jahren, als er alles verloren hatte, was ihm geblieben war. Und dann kam Finn,
der Rettungsanker, denn nach allem, was ihm im Leben schon widerfahren war,
fühlte sich Finn wie ein Engel an. Ein Engel, der ihn rettete.
Er wusste immer, dass dies ein schwarzer Tag war, doch er hätte nicht im
Traum daran gedacht, erneut diesen Schmerz zu empfinden, und sogar noch
schlimmer. Es gab also eine Steigerung der Angst, der Panik, denn er fühlte
sie. Er würde es kein drittes Mal überstehen. Er hört nichts mehr. Nicht mehr
die Geräusche des Waldes, nicht mehr die Stimmen der Einsatzkräfte und
freiwilligen Helfer. Er ist wieder in der Vergangenheit an diesem gottverdammten
Tag vor sieben Jahren.
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