Mittwoch, 6. Juni 2018

Leseprobe zu "Mordsgeheimnis"

Prolog

Ich sehe hinab in die Schlucht und weiß, dass ich in wenigen Minuten tot sein werde. Gleich werde ich sterben. Dann hebe ich meinen Kopf, öffne die Augen und sehe die Wolken, die schnell an mir vorbeiziehen. Eine nach der anderen. Sie sind wunderschön weiß, dahinter der strahlend hellblaue Himmel, der so gar nicht zu diesem Anlass passt. Niemand ist in der Nähe. Ich bin allein, abseits vom Touristentrubel. Es darf auch keiner hier sein, denn in meiner rechten Hand halte ich eine Pistole. Sie fühlt sich kalt an, ein schweres Teil, das alles zerstört hatte. Oder war es die Hand gewesen, die sie geführt hatte? Wer weiß das schon? Es ist nicht mehr zu ändern. Ein Schuss aus dieser Pistole hatte dazu geführt, dass ich nun hier stehe. Direkt am Abgrund. Ich habe Angst. Aber ich unterdrücke den Schmerz, den Kummer, den Hass. Diese Gefühle helfen mir nicht weiter. Sie zeigen mir nur, wie tief ich doch gesunken bin, wir alle. Ich sehe bis ganz nach unten und erkenne ganz klein den See vor mir. Oft waren wir als Familie hier gewesen. Als noch alles in Ordnung gewesen war. Es hatte damals noch keinen Streit gegeben, keine Erbärmlichkeiten, keinen Hass. Oder aber ich war zu klein gewesen, zu dumm, um zu erkennen, dass meine Familie eine reine Fassade war. Ich schließe die Augen, der Wind wird stärker und ich schwanke leicht, aber mir wird nicht schwindelig, ich liebe die Höhe. Ich sehe meine Eltern vor mir, die sich küssen, sich aneinanderschmiegen, gemeinsam lachen. Ja, das sehe ich in meinen Erinnerungen. Aber dann kommen mir wieder die schlimmen Streitereien in den Sinn. Um Geld, um Schulnoten, um den Haushalt – ach, um einfach alles hatten sie gestritten. Laut und mit bösen Worten. In diesen Momenten hatte sich Konrad, mein kleiner Bruder, an mich gekuschelt und wir hatten mit Kopfhörern Geschichten gehört. Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg, Pumuckl. Alte Sachen, die uns unsere Oma geschenkt hatte.
Ich öffne die Augen und weiß, wenn ich den einen Schritt nach vorne wage, ist alles vorbei. Dann habe ich es geschafft und die anderen sind frei, für immer. Ich muss es tun, für sie. Dann fange ich an zu zittern, denn der Zeitpunkt naht, an dem ich springen muss. Ich kann nicht mehr zurück in die Gondel, die mich ins Tal bringen könnte. Das ist unmöglich. Ich nehme die Pistole in beide Hände, stecke sie in den Rucksack, schnalle ihn mir um, ganz fest, dass er auf keinen Fall beim Sprung abreißt. Er muss an mir dran bleiben, die Pistole muss bei mir sein. Mit meinen Fingerabdrücken darauf. Dann fühle ich den Brief, er ist noch da. Ich stecke ihn in die Hosentasche zurück und schließe erneut die Augen, spüre den Wind, höre die Vögel, das Rauschen des Bachs und des Waldes. Kann man sich denn einen schöneren Tod wünschen? Ich glaube nicht. In diesem einen letzten Moment stehe ich einfach da, und lebe. 

Hier geht es zum Buch: "Mordsgeheimnis"

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