Montag, 8. März 2021

Leseprobe zum Pandemiethriller "Fake Girl" von Natalie Schauer

 Hier geht es zum Buch: Fake Girl


Prolog

Er war betrunken. Taumelte.
Schmeckte seinen eigenen faulen Atem. Die ganze Nacht über hatte er getrunken.
Er trank nur noch alleine, mehr war nicht erlaubt.
Es gab keine Kneipen mehr. Keine Hotels. Keine Wirtshäuser. Keine Diskotheken.
Als er die Wache verließ, humpelte er an der Schule vorbei. Er hörte Stimmen, wunderte sich nur kurz. Doch dann fiel ihm ein, dass heute das jährliche Treffen stattfand.
Er zuckte mit den Schultern, spazierte weiter. Sein Bein schmerzte, denn er war vor einigen Tagen die Treppe heruntergestürzt, sein Knöchel dick und geschwollen.
Er freute sich auf sein Bett.
Urplötzlich zuckte er zusammen, drehte sich um. Ein Schuss. Seine Augen weiteten sich. Er hörte Geschrei.
Die Schule.
Verdammte Scheiße, was war hier los?
Noch ein Schuss.
Geduckt lief er zum Gebäude, der Alkohol war wie weggeblasen. Die Schreie gingen ihm durch Mark und Bein.
Er griff an seine Hüfte, dann hielt er inne.
Er hatte keine Waffe dabei.
Dennoch musste er nachsehen, was passiert war.
Sein Handy lag auf seinem Schreibtisch, er war auf sich allein gestellt.
Plötzlich war es totenstill.
Er wusste, die Schüler würden in der Aula sein.
Er schlich um das Gebäude herum.
Schüsse. Mehrere hintereinander.
Geschrei. Es wurde lauter.
Ein Blick durch das Aulafenster offenbarte ihm das blanke Entsetzen.
Zwei vermummte Gestalten standen auf der Bühne und schossen wild auf die Teenager, die sich hinter Stühlen und Bänken versteckten.
Er musste handeln.
Musste rein gehen.
Aber er tat es nicht.
Wie betäubt konnte er den Blick von dem Massaker nicht abwenden.
Das Blut spritzte überallhin.
Die Kinder weinten.
Schrien.
Er musste ihnen helfen.
Er tat es aber nicht.
Er spürte etwas Warmes an seinem Bein hinabrinnen. Bis er begriff, dass es seine eigene Pisse war, vergingen einige Sekunden.
Plötzlich war es zu Ende.
Die letzten beiden Schüsse galten den Angreifern selbst. Sie erschossen sich gegenseitig.
Er starrte noch lange durch das Fenster in die Aula, dann ging er hinein. Stieg über so viele Leichen, kniff die Augen zusammen. Alle waren tot.
Doch plötzlich stand dieser Junge vor ihm.
Ungläubig starrte er ihn an.
Er trug noch seine Uniform und schämte sich.
So viele Leichen.

 

Heute: Das fremde Smartphone

Leni

Leni kroch aus dem Bett.
Ihr Kopf pochte. Er war schwer. Gin-schwer. Zuviel-Gin-schwer. Sie löste ihre Zunge mit einem Schnalzen von dem trockenen, säuerlichen Gaumen. Oh Mann, wie viel hatte sie getrunken?
Und ... mit wem?
Fuck!
Plötzlich hellwach drehte sie sich in Richtung Bett zurück. Zog mit einem Ruck die Decke weg.
Kein Mann. Glück gehabt. Ihr Kopf sackte nach vorn, stöhnend griff sie an die pochenden Schläfen. Verdammt. So durfte das nicht weitergehen.
Sie schlurfte zum Bad, stolperte über eine Flasche.
Fuck!
Sie blieb stehen, rieb sich den großen Zeh. Wacholderduft stieg ihr in die Nase, sie beobachtete, wie ein dünnes Rinnsal Gin aus der fast leeren Flasche ein wirres Muster auf dem Boden zeichnete.
Ihr Magen knurrte, ihr Mund war trocken und sie trug ihr pink-oranges Minikleid, das ihr verschwitzt und zerknittert am Körper klebte.
Sie schlurfte zur Toilette, entleerte sich, hielt dabei ihren Kopf in den Händen. Ihr war kotzübel. Übler als letzten Monat, als sie ihren Kollegen unter den Tisch gesoffen hatte. Wie viel, verdammt, hatte sie diesmal erwischt?
Abhängigkeit, so nannte man das.
Sie wusste es.
Sie wollte es aber nicht wahrhaben.
Ein kurzer Blick in den Spiegel offenbarte ihr die eigene Abhängigkeit von dem Dreckszeug. Schnell begab sie sich in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank und schnappte sich die Flasche Wasser, daneben stand eine Flasche Gin. Am liebsten hätte sie einen Schluck genommen, wollte es aber nicht übertreiben. Und doch trank sie nur einen Schluck Wasser, bevor sie ihren Unmut mit Gin hinunterspülte.
 Reiß dich zusammen, Leni!
Sie stellte den Gin zurück.
Durch das gekippte Fenster hörte sie die Regentropfen und sehnte sich nach einer Dusche. Zuerst aber schnappte sie sich ihr Smartphone. Obwohl sie heute frei hatte, musste sie erreichbar sein. Sie wischte mit dem Daumen über das Display.
Es dauerte einen Moment, ehe sie es bemerkte.
Das Handy in ihrer Hand gehörte nicht ihr.
Sie ließ es fallen. Wie in Zeitlupe krachte es auf den Boden.
War sie doch nicht allein?
Sie schnellte herum, am liebsten hätte sie zu ihrer Dienstwaffe gegriffen, aber diese lag nicht in Reichweite.
Mit geschärften Sinnen fühlte sie sich schlagartig hellwach. Leni suchte die Wohnung ab, aber da war niemand. Sie öffnete sogar die Haustür, wieso auch immer.
Irritiert schlurfte sie zurück in die Küche, das Smartphone lag noch auf dem Boden. Ein fremdes Handy mit ihrem Bild als Hintergrund. Ihr Gesicht als Teenager. Sie wusste, wo das Bild aufgenommen worden war, aber ihr war damals nicht bewusst gewesen, dass sie fotografiert worden war.
Mit zittrigen Fingern hob sie das Handy vom Boden auf. Es war zersplittert. Auf der rechten oberen Hälfte zog sich eine Art Spinnennetz über das Display.
Sie wischte erneut mit dem Daumen darüber, spürte die Risse unter ihrem Finger. Dann sah sie sich selbst. Als Teenager, damals. Vor einer Ewigkeit.
In einer anderen Zeit.
In einer anderen Welt.
Genau wegen dieser Nacht trank sie zu viel. Vögelte zu viel. Schlief zu wenig. Wegen dieser einen Nacht.
Sie musste sich setzen. Sie fühlte sich, als wäre sie einen Marathon gelaufen, so außer Atem war sie. Eine unterbewusste Angst machte sich in ihr breit, füllte sie aus.
Eine alt bekannte Angst.
Sie klickte mit dem Finger auf das Kamerazeichen. Sie holte Luft, denn es gab noch mehr Fotos.
Nein!
Leni im Wald.
Leni auf dem Boden kniend.
Das Gesicht zu einer Fratze verzerrt.
Und ... sie konnte sich die anderen Fotos nicht ansehen und warf das Handy auf den Tisch. Alles kam wieder hoch. Ihr altes Leben, die alte Welt.
Ihr Magen zog sich zusammen. Sie lief zur Toilette und übergab sich. Der saure Mageninhalt hinterließ einen ekligen Geschmack in ihrem Mund.
Wie lange sie auf den kalten Fliesen gekauert hatte, wusste sie nicht mehr, ehe sie zurück in die Küche kroch, das Handy in die Hand nahm und alle Fotos durchsah. Irgendwer wusste Bescheid. Wusste alles.
Neben dem Foto gab es eine einzige Nachricht.
Ich habe dein Kind!
Ich weiß alles!
ALLES?
Leni schüttelte den Kopf, wippte vor und zurück. Wie konnte jemand alles wissen? Wer?
Diese Person war nicht nur vor fünfzehn Jahren dort gewesen, sondern wusste, dass sie ein Kind hatte. Und das wusste niemand, außer ihrem Vater und ihr selbst. Wer also spielte nun mit ihr?
Dann klopfte es an der Tür. Sie zuckte zusammen und sprang auf.