Dienstag, 12. September 2023

 Leseprobe zu "Mädchenlügen"

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Die Ermittlungen

Tamara Pech

Sie kämmte sich ihre langen schwarzen Haare und band sie sich zu einem strengen Dutt. So wie fast jeden Tag. Auf dem Badezimmerschrank lag ihr Notizbuch. Sie schrieb gerne per Hand, auch wenn sie ihr Kollege Thomas Petri deswegen ständig aufzog. Er notierte alles auf einem Tablet. Das fand sie total affig. Aber sie mochte ihn, er war ein enger Freund.
Nachdenklich betrachtete sie ihr Spiegelbild und blickte in müde Augen. In letzter Zeit wirkte ihre Haut faltig und aschfahl. Der Fall um den Wiesn-Vergewaltiger setzte ihr erheblich zu. Sie kannte den Grund genau, doch sie schwieg darüber, wollte dieses Geheimnis weiter unter Verschluss halten. Niemand wusste davon. Kein einziger Mensch. Nur sie selbst.
„Wiesn-Vergewaltiger“ passte streng genommen nicht, da nur eine Vergewaltigung direkt nach der Wiesn passiert war. Alle anderen Vergewaltigungen hatten in den Monaten danach stattgefunden. Im Winter war es ruhiger gewesen. Inzwischen gab vier Opfer, alle hatten überlebt. Mehr schlecht als recht. Eine saß im Rollstuhl und eine andere war seit der Tat in einer psychiatrischen Klinik. Alle vier Opfer trugen heftige Male von den Überfällen am Körper. Sie waren verstümmelt, verbrannt, vergewaltigt, aufgeschlitzt worden. Doch alle hatten überlebt.
Der Frühling setzte sich langsam durch, die Sonne strahlte heute vom Himmel, doch in Tamara war es leer. Innerlich zerfressen stürzte sie sich von einem in den anderen Fall. Privatleben kannte sie nicht. Sie war bis ins Landeskriminalamt aufgestiegen. Dort wollte sie bleiben, sich beweisen. Doch dieser Fall setzte ihr mehr denn je zu. Morde, ja. Aber die verstümmelten Mädchen zu sehen, führten bei ihr zu einem Flashback. Darüber durfte sie nicht nachdenken, sich nicht ablenken lassen. Sie hörte die Hupe von Thomas. Schon wieder war sie zu spät dran und eilte zur Tür.
„Wir haben einen Mord“, begrüßte sie der lächelnde Kollege.
„Und da lächelst du?“
„Du kennst mich doch“, murmelte er vor sich hin.
„Sag schon!“, forderte sie ihn auf, mehr zu erzählen.
„Diesmal hat sie es nicht geschafft. Wieder ein Mädchen, wieder im Müll. Diesmal tot.“
„Nein! Scheiße noch mal. Verflucht noch mal“, machte sie ihrer Wut Luft und schlug mit der Faust gegen die Scheibe.
„Das kann doch nicht wahr sein!“ Sie war außer sich. Machte sich dafür verantwortlich, da keiner vorankam. Die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Polizeiinspektionen war mühsam. Doch auch das LKA kam kein Stück weiter. Sie fühlte sich schuldig.
Der Tatort lag im Hinterhof einer stillgelegten Disco. Nur durch Zufall war die Leiche so schnell gefunden worden. Der Ablageort unterschied sich diesmal, schoss es Tamara sofort durch den Kopf. Alle anderen Mülltonnen hatten an belebten Plätzen gestanden. Der Täter wollte, dass die Mädchen gefunden wurden. Aber diesmal war es anders. Wieso?
War er zu Mord übergegangen? Hatten ihm die Verstümmelungen nicht mehr ausgereicht?
Tamara und Thomas zogen sich weiße Einweg-Overalls an, um den Tatort nicht zu verunreinigen, und sahen in den Müllcontainer. Darin lag sie. Das Mädchen, dessen Gesicht man nicht mehr erkannte. Der Hals war aufgeschlitzt, die Augen hinter dicken blauen Schwellungen verborgen. Die Haare blutverschmiert, aber das Schwarz war noch erkennbar. Tamara musste schlucken, sich konzentrieren, um sich nicht zu übergeben.
Dort, wo die Brustwarzen sein sollten, befanden sich dicke Krusten, auch diesem Opfer waren die Brustwarzen entfernt worden. Abgebissen, abgerissen, abgeschnitten. Das war im Moment nicht festzustellen.
Auf den ersten Blick erkannte Tamara viele Ähnlichkeiten zu den anderen verstümmelten Vergewaltigungsopfern. Und doch beschlich sie das Gefühl, dass hier etwas anders war.
„Findest du nicht, dass dieser Ort so gar nicht zu den anderen Tatorten passt?“, fragte Thomas.
„Ja, das stimmt. Warum ist er auf Mord umgestiegen? War das geplant? Vielleicht lässt er sie hier sterben und will das Risiko nicht eingehen, dass sie jemand zu früh findet.“
„Mhhh, könnte sein. Doch wieso jetzt und wo richtet er die Mädchen nur so zu?“
„Vergewaltigung und Folter allein reichen ihm nicht mehr. Er braucht einen größeren Kick“, mutmaßte Tamara und war doch nicht überzeugt. Irgendetwas irritierte sie hier. Sie dachte wieder darüber nach, wo er die Mädchen so zurichten konnte. Er brauchte Räumlichkeiten und ein Fahrzeug. Er war geschickt. Aber dieser Ort hier passte nicht ins Bild.
Die Spurensicherung machte ihre Arbeit und Thomas und Tamara fuhren zurück ins LKA. Als nächsten Schritt mussten sie die Identität des Mädchens klären. Sie war nackt, hatte keine Papiere bei sich gehabt. Das war zumindest bei den anderen Opfern auch so gewesen. Es musste sich um denselben Täter handeln. Er war zum Mörder geworden. Er steigerte sich. Die Fahrt dauerte ewig, der Verkehr war im Moment ein Graus. Überall Baustellen. Sie hasste München. Sie verabscheute diese Stadt so sehr und doch wollte sie nie wieder weg.
Das Kaff, aus dem sie kam, war ihr  noch viel mehr zuwider. Sofort nach dem Abi war sie abgehauen. Hatte ihr Leben verändert, war auf die Polizeiakademie gegangen. Dort hatte sich alles gefügt. Plötzlich hatte sie eine Aufgabe gehabt.
Zurück in ihrem Büro im LKA-München genehmigte sie sich einen Espresso. Die Lage war angespannt, alle Kollegen taten ihr bestes und doch war es nicht gut genug. Sie hatten nun ein Mordopfer. Das hätte verhindert werden können. Wenn sie nur schneller gewesen wären.
Thomas ging die Vermisstendateien durch. Das Mädchen war vermutlich minderjährig. Ihr Fehlen musste aufgefallen sein.
Tamara trank ihren Espresso und starrte auf die Wand mit den Vergewaltigungsopfern.
Vier bildhübsche Frauen. Alles Gymnasiastinnen. Klug und ehrgeizig. Das hatten sie gemeinsam.
Sie begutachtete noch mal die Landkarte. Die vier Opfer kamen alle aus Bayern. Ein Mädchen aus München Stadt, eins aus Passau in Niederbayern, eins aus Regensburg und eins aus Deggendorf. Vier völlig unterschiedliche Orte. Weshalb die Fälle auch an das Landeskriminalamt abgegeben worden waren. Unruhig sah sie auf die Uhr, denn sie warteten auf den toxikologischen Bericht. Allen voran auf die entscheidende Frage.
Hatte auch das Mordopfer eine Murmel im Magen?
Alle vier Mädchen hatten eine Murmel im Kot gefunden. Vermutlich nur durch Zufall war die erste Murmel entdeckt worden. Bei den drei weiteren Opfern wurde dann gezielt danach gefragt und auch bei ihnen war eine gläserne Murmel im Kot gefunden worden. Niemand außer die Opfer und das LKA wussten davon. Weder die Presse, noch die Eltern der Mädchen waren darüber informiert worden. Natürlich konnte man nicht sagen, ob eins der Mädchen dies ausgeplaudert hatte, doch sie waren gebeten worden, es nicht zu tun.
Wäre wieder eine Murmel im Magen, konnte man davon ausgehen, dass es sich um denselben Täter handeln musste. Wieso Tamara daran zweifelte, wusste sie selber noch nicht. Aber ihre Intuition sagte ihr, dass hier etwas nicht stimmte.
Eine Person war von Tamara darauf angesetzt worden, herauszufinden ob es noch andere Fälle mit Murmeln gab oder was Murmeln für eine Bedeutung hatten. Bisher aber keine brauchbaren Ergebnisse.
Die Stunden vergingen, sie musste bald zur Pressekonferenz, das wurde erwartet. Von allen besorgten Bürgern, vom Mob, der gegen die Polizei wetterte. Immer, wenn es die Mitte der Gesellschaft traf, wurde dieser laut. Die Mädchen waren die Rosen der Gesellschaft. Sie waren das, worauf ein Land stolz war. Sie selbst war nie so ein Mädchen gewesen. Sie schämte sich dafür. Immer noch. 




Montag, 8. März 2021

Leseprobe zum Pandemiethriller "Fake Girl" von Natalie Schauer

 Hier geht es zum Buch: Fake Girl


Prolog

Er war betrunken. Taumelte.
Schmeckte seinen eigenen faulen Atem. Die ganze Nacht über hatte er getrunken.
Er trank nur noch alleine, mehr war nicht erlaubt.
Es gab keine Kneipen mehr. Keine Hotels. Keine Wirtshäuser. Keine Diskotheken.
Als er die Wache verließ, humpelte er an der Schule vorbei. Er hörte Stimmen, wunderte sich nur kurz. Doch dann fiel ihm ein, dass heute das jährliche Treffen stattfand.
Er zuckte mit den Schultern, spazierte weiter. Sein Bein schmerzte, denn er war vor einigen Tagen die Treppe heruntergestürzt, sein Knöchel dick und geschwollen.
Er freute sich auf sein Bett.
Urplötzlich zuckte er zusammen, drehte sich um. Ein Schuss. Seine Augen weiteten sich. Er hörte Geschrei.
Die Schule.
Verdammte Scheiße, was war hier los?
Noch ein Schuss.
Geduckt lief er zum Gebäude, der Alkohol war wie weggeblasen. Die Schreie gingen ihm durch Mark und Bein.
Er griff an seine Hüfte, dann hielt er inne.
Er hatte keine Waffe dabei.
Dennoch musste er nachsehen, was passiert war.
Sein Handy lag auf seinem Schreibtisch, er war auf sich allein gestellt.
Plötzlich war es totenstill.
Er wusste, die Schüler würden in der Aula sein.
Er schlich um das Gebäude herum.
Schüsse. Mehrere hintereinander.
Geschrei. Es wurde lauter.
Ein Blick durch das Aulafenster offenbarte ihm das blanke Entsetzen.
Zwei vermummte Gestalten standen auf der Bühne und schossen wild auf die Teenager, die sich hinter Stühlen und Bänken versteckten.
Er musste handeln.
Musste rein gehen.
Aber er tat es nicht.
Wie betäubt konnte er den Blick von dem Massaker nicht abwenden.
Das Blut spritzte überallhin.
Die Kinder weinten.
Schrien.
Er musste ihnen helfen.
Er tat es aber nicht.
Er spürte etwas Warmes an seinem Bein hinabrinnen. Bis er begriff, dass es seine eigene Pisse war, vergingen einige Sekunden.
Plötzlich war es zu Ende.
Die letzten beiden Schüsse galten den Angreifern selbst. Sie erschossen sich gegenseitig.
Er starrte noch lange durch das Fenster in die Aula, dann ging er hinein. Stieg über so viele Leichen, kniff die Augen zusammen. Alle waren tot.
Doch plötzlich stand dieser Junge vor ihm.
Ungläubig starrte er ihn an.
Er trug noch seine Uniform und schämte sich.
So viele Leichen.

 

Heute: Das fremde Smartphone

Leni

Leni kroch aus dem Bett.
Ihr Kopf pochte. Er war schwer. Gin-schwer. Zuviel-Gin-schwer. Sie löste ihre Zunge mit einem Schnalzen von dem trockenen, säuerlichen Gaumen. Oh Mann, wie viel hatte sie getrunken?
Und ... mit wem?
Fuck!
Plötzlich hellwach drehte sie sich in Richtung Bett zurück. Zog mit einem Ruck die Decke weg.
Kein Mann. Glück gehabt. Ihr Kopf sackte nach vorn, stöhnend griff sie an die pochenden Schläfen. Verdammt. So durfte das nicht weitergehen.
Sie schlurfte zum Bad, stolperte über eine Flasche.
Fuck!
Sie blieb stehen, rieb sich den großen Zeh. Wacholderduft stieg ihr in die Nase, sie beobachtete, wie ein dünnes Rinnsal Gin aus der fast leeren Flasche ein wirres Muster auf dem Boden zeichnete.
Ihr Magen knurrte, ihr Mund war trocken und sie trug ihr pink-oranges Minikleid, das ihr verschwitzt und zerknittert am Körper klebte.
Sie schlurfte zur Toilette, entleerte sich, hielt dabei ihren Kopf in den Händen. Ihr war kotzübel. Übler als letzten Monat, als sie ihren Kollegen unter den Tisch gesoffen hatte. Wie viel, verdammt, hatte sie diesmal erwischt?
Abhängigkeit, so nannte man das.
Sie wusste es.
Sie wollte es aber nicht wahrhaben.
Ein kurzer Blick in den Spiegel offenbarte ihr die eigene Abhängigkeit von dem Dreckszeug. Schnell begab sie sich in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank und schnappte sich die Flasche Wasser, daneben stand eine Flasche Gin. Am liebsten hätte sie einen Schluck genommen, wollte es aber nicht übertreiben. Und doch trank sie nur einen Schluck Wasser, bevor sie ihren Unmut mit Gin hinunterspülte.
 Reiß dich zusammen, Leni!
Sie stellte den Gin zurück.
Durch das gekippte Fenster hörte sie die Regentropfen und sehnte sich nach einer Dusche. Zuerst aber schnappte sie sich ihr Smartphone. Obwohl sie heute frei hatte, musste sie erreichbar sein. Sie wischte mit dem Daumen über das Display.
Es dauerte einen Moment, ehe sie es bemerkte.
Das Handy in ihrer Hand gehörte nicht ihr.
Sie ließ es fallen. Wie in Zeitlupe krachte es auf den Boden.
War sie doch nicht allein?
Sie schnellte herum, am liebsten hätte sie zu ihrer Dienstwaffe gegriffen, aber diese lag nicht in Reichweite.
Mit geschärften Sinnen fühlte sie sich schlagartig hellwach. Leni suchte die Wohnung ab, aber da war niemand. Sie öffnete sogar die Haustür, wieso auch immer.
Irritiert schlurfte sie zurück in die Küche, das Smartphone lag noch auf dem Boden. Ein fremdes Handy mit ihrem Bild als Hintergrund. Ihr Gesicht als Teenager. Sie wusste, wo das Bild aufgenommen worden war, aber ihr war damals nicht bewusst gewesen, dass sie fotografiert worden war.
Mit zittrigen Fingern hob sie das Handy vom Boden auf. Es war zersplittert. Auf der rechten oberen Hälfte zog sich eine Art Spinnennetz über das Display.
Sie wischte erneut mit dem Daumen darüber, spürte die Risse unter ihrem Finger. Dann sah sie sich selbst. Als Teenager, damals. Vor einer Ewigkeit.
In einer anderen Zeit.
In einer anderen Welt.
Genau wegen dieser Nacht trank sie zu viel. Vögelte zu viel. Schlief zu wenig. Wegen dieser einen Nacht.
Sie musste sich setzen. Sie fühlte sich, als wäre sie einen Marathon gelaufen, so außer Atem war sie. Eine unterbewusste Angst machte sich in ihr breit, füllte sie aus.
Eine alt bekannte Angst.
Sie klickte mit dem Finger auf das Kamerazeichen. Sie holte Luft, denn es gab noch mehr Fotos.
Nein!
Leni im Wald.
Leni auf dem Boden kniend.
Das Gesicht zu einer Fratze verzerrt.
Und ... sie konnte sich die anderen Fotos nicht ansehen und warf das Handy auf den Tisch. Alles kam wieder hoch. Ihr altes Leben, die alte Welt.
Ihr Magen zog sich zusammen. Sie lief zur Toilette und übergab sich. Der saure Mageninhalt hinterließ einen ekligen Geschmack in ihrem Mund.
Wie lange sie auf den kalten Fliesen gekauert hatte, wusste sie nicht mehr, ehe sie zurück in die Küche kroch, das Handy in die Hand nahm und alle Fotos durchsah. Irgendwer wusste Bescheid. Wusste alles.
Neben dem Foto gab es eine einzige Nachricht.
Ich habe dein Kind!
Ich weiß alles!
ALLES?
Leni schüttelte den Kopf, wippte vor und zurück. Wie konnte jemand alles wissen? Wer?
Diese Person war nicht nur vor fünfzehn Jahren dort gewesen, sondern wusste, dass sie ein Kind hatte. Und das wusste niemand, außer ihrem Vater und ihr selbst. Wer also spielte nun mit ihr?
Dann klopfte es an der Tür. Sie zuckte zusammen und sprang auf.

 

Sonntag, 25. Oktober 2020

Leseprobe zu "Rachezwilling"

 Das Grab, Sommer 1932 (Hier geht es zum Buch: Rachezwilling)




Josefa

Im Sommer 1932 lag ein junges Mädchen mit dem Namen Josefa in Neu Futok auf einer Wiese, unweit ihres Zuhauses.
Sie war allein, lag auf dem Rücken, genoss die warmen Sonnenstrahlen und weilte gedanklich in einer Traumwelt.
Sie hörte entfernt die Männer und Frauen bei der Feldarbeit, dort sollte auch sie sein, aber sie hatte sich davongeschlichen.
Die Schläge ihres Vaters am Abend waren ihr gewiss, doch das hinderte sie nicht daran, die Einsamkeit des Moments zu genießen.
Sie war nie allein, nur wenn sie sich davonschlich, so wie heute. Es war kein schlechtes Leben, das sie und ihre Familie führten, aber es ging einher mit harter Arbeit und wenig Platz und Freiraum für ein einzelnes Mädchen. Sie schloss die Augen, träumte sich an die Seite eines jungen Prinzen, der sie entführte und liebte.
»Hilfe, so helft mir doch.«
Plötzlich wurde sie vom Geschrei einer Frau aus den Gedanken gerissen, dann laute Rufe von Männern.
Es musste etwas passiert sein.
Sie setzte sich auf, blickte über die hohen Gräser in die Richtung, aus der sie den Tumult vermutete. Sie sah nichts, denn ein kleiner Wald lag zwischen ihr und dem Dorf, vor dem sie geflohen war. Jetzt aber sprang sie auf und begann zu rennen. Zuerst durch die Gräser, die sie an den sonnengebräunten Beinen kitzelten, dann durch den kleinen Wald, durch feuchtes Moos und über einen schmalen Bach.
Sie sah nun hinab auf das Feld, auf dem gearbeitet wurde. Es war der Acker eines Bauern, den sie gut kannten. Ihr Vater und ihre schwangere Mutter waren dort, auch ihre Schwestern, nur sie hatte sich davongeschlichen.
Alle standen um einen Pferdewagen herum.
Das Flehen der Bäuerin war zu hören sowie das Wimmern der umstehenden Kinder.
Endlich kam sie an, drängte sich zwischen ihre Familie, sah hinab auf den kleinen Jungen, der leblos in den Armen der Mutter hing.
Die Bäuerin sah gen Himmel und stieß einen verzweifelten Schrei aus, der Josefa an ein verletztes Tier erinnerte. Dann ließ die Mutter die Schultern hängen, blickte auf ihr totes Kind und wiegte es vor und zurück. Die Kinder weinten um einen ihrer Brüder, auch Josefa kannte den kleinen Jungen gut und konnte die Tränen nicht zurückhalten.
Sie wurde den Kloß im Hals nicht los. Konnte sich nicht bewegen, nichts sagen.
Noch nie war sie dem Tod so nahe gewesen wie in diesem Moment.
Ein kerngesunder Junge, keine drei Jahre alt, war von einem Pferdewagen gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen.
Der Arzt wurde geholt, zu Fuß war einer der älteren Jungen kilometerweit ins nächste Dorf gelaufen. Keiner hatte einen Wagen, nur der Bauer hatte einen Pferdewagen. Doch keiner war imstande, mit diesem auszurücken – war doch zuvor erst der Junge heruntergestürzt.
Stunden später kam der Arzt mit seinem eigenen Gespann angefahren, ein alter, dürrer Mann, den Josefa kannte. Sie hatte sich selbst einmal schwer verletzt und war mit eben diesem Pferdewagen des Bauern, der dem Jungen das Leben gekostet hatte, zum Arzt gefahren worden.
Damals war alles gut ausgegangen.
 Doch nun war ein Junge tot.
Stille lag über dem Dorf. Jeder kannte sich, die Trauer überkam alle Bewohner, und die Arbeit stand für einen Tag still. Josefa dachte lange über den Tod nach und wollte darüber sprechen, doch ihre Mutter hatte kein Ohr für ihre Probleme.
Sie war über der Zeit, wie sie immer wieder betonte, und ihre Angst, erneut ein Mädchen zu gebären, war groß.
Die zehnjährige Josefa verstand diese Angst nicht, wie so vieles in dieser Zeit unverständlich war. Die Kinder mussten schweigen, wenn die Erwachsenen sprachen – sie hatten keine Stimme. Sie und ihre Schwestern waren artig und tüchtig, gehorchten, gingen zur Schule und danach aufs Feld. Sie konnten genauso gut zupacken wie die Jungen aus dem Dorf, doch ihr Vater wünschte sich einen Stammhalter, einen Sohn, der in seine Fußstapfen treten sollte. Er schrie seine Frau deswegen oft an und gab ihr die Schuld an den Weibergeburten, wie er sie nannte. Josefa fühlte sich klein und dümmlich, wenn ihr Vater über Weiber herzog, sie beschimpfte und verdrosch. So war das zu dieser Zeit, als vieles keinen Wert hatte und so vieles andere dafür einen höheren.
Am nächsten Morgen musste die Arbeit weitergehen. Der Bauer, der reicher als Josefas Familie war, stand am nächsten Morgen wieder auf dem Feld. Da war sein Sohn noch nicht einmal zu Grabe getragen worden. Nur die Bäuerin war nicht in Sicht – für lange Zeit nicht, man sah sie nur noch selten nach dem Unfall des Kindes. Er war ihr Jüngster gewesen, ihr Liebling.
Sie hatte ihn immer auf dem Rücken getragen.
Nur an diesem schrecklichen Tag nicht.
Am nächsten Tag setzten bei Josefas Mutter die Wehen ein, und alle Schwestern beteten, es möge endlich ein Bruder kommen.
Der Vater ging in die Wirtschaft, wollte nicht dabei sein, wenn das nächste Weib das Licht der Welt erblickte. Er drohte damit, es in den Bach zu schmeißen, aber keiner glaubte ihm das.
Er war oft betrunken, schlug ihre Mutter und auch die älteste Schwester, manchmal auch die kleinen Mädchen, aber nie mit dem Stock. Die Mädchen holten Wasser und Tücher, halfen der Mutter bei der Geburt, die so schnell zu Ende war, wie sie begonnen hatte.
Im Stehen presste sie das Kind heraus, das sofort laut und gellend schrie. Die Mutter traute sich nicht, es zu betrachten. So schaute die älteste Schwester nach dem Geschlecht, alle anderen Mädchen standen in der Ecke und beteten. Doch die Augen der Ältesten sprachen Bände.
Es war wieder ein Mädchen. Dann fing die Mutter an zu weinen und zu schreien. Die Mädchen bekamen Angst und flüchteten nach draußen. Die Älteste kümmerte sich um die Mutter, sie waren sich ohnehin am ähnlichsten, grob und beinahe ohne Gefühle. Anders als Josefa, die viel Liebe in sich trug, welche hinaus in die Welt getragen werden wollte.
Doch es war noch nicht zu Ende.
»Es kommt noch eins«, rief die Schwester.
»Hoffentlich diesmal ein Junge«, hörte sie ihre Mutter.
Und die Mutter schrie erneut.
Presste und keifte.
Und als das Kind endlich herauskam, weinte es nicht.
Der Junge war tot.
Die Stille danach erdrückte Josefa und ihre Schwestern beinahe.
Die Mutter hielt das Kind in den Händen. Der Sohn war endlich geboren worden. Aber er war tot.
»Sie hat ihn getötet«, schrie sie plötzlich und stürmte auf die älteste Tochter zu. Josefa bekam es mit der Angst zu tun.
»Sie hat meinen Sohn getötet!« Die Mutter nahm das neugeborene Mädchen und schüttelte es.
»Nein, Mama. Hör auf«, wimmerte Josefa. Wie immer war sie die Einzige, die sich gegen ihre Mutter stellte. Das Baby konnte doch nichts dafür.
Die älteste Schwester entriss der Mutter dann das Kind.
Das Blut sickerte aus dem Unterleib ihrer Mutter und dieses Bild würde sich für immer in das Gedächtnis der Schwestern einbrennen.
Dann brach die Mutter von so vielen Mädchen zusammen.
Es wurde Nacht, der Vater war noch nicht zu Hause, da schlichen die älteste Tochter und die Mutter nach draußen.
Josefa, die nicht schlafen konnte, beobachtete die beiden und folgte ihnen.
Weit waren sie gelaufen, kilometerweit in den Wald hinein, bis die Frauen innehielten und das Baby erneut betrachteten.
Josefas Herz schlug ihr bis zum Hals, noch nie im Leben hatte sie so viel Angst verspürt wie in diesem Moment hinter dem Baum. Sie sah die Menschen, die sie am meisten liebte, bei einer Tat, die grausamer war als alles, was sie sich in ihrem kindlichen Leben vorstellen konnte.
Sie traute sich kaum, zu atmen, durfte sich keinen Schritt bewegen, denn ein Knacks, ein falscher Schritt, und sie würde in ihrem feuchten Versteck auffliegen.
Stundenlang hatte es geregnet, während der Wehen ihrer Mutter hatte es sogar geblitzt und gedonnert, so als würde sich selbst der Himmel gegen diese Geburt auflehnen. Aber auch Gott hatte nicht das Recht, sich gegen dieses Leben zu entscheiden. Josefa war so jung, so unschuldig und trug so viel Liebe in sich, sie konnte bei diesem Verbrechen nicht zusehen.
Und wenn sie für dieses Wesen sterben würde, dann wäre es ihr Schicksal. Schon immer hatte sie sich aufgebäumt, war anders als gewöhnliche zehnjährige Mädchen, und dafür hatte sie schon viele Ohrfeigen ihres Vaters eingesteckt.
Ihr Körper erstarrte, denn sie hatte sich nur einen Millimeter bewegt, doch der Boden unter ihr knisterte und die Frauen drehten sich nach ihr um.
Sie duckte sich, traute sich nicht, die Augen zu öffnen.
Ihr Puls schoss in die Höhe, sie presste die Augen so sehr zusammen, dass sie zu zittern begann. Sie hörte nichts, denn ihr Körper schien erstarrt zu sein, gelähmt, aus Angst, entdeckt zu werden.
»Vermutlich ein Tier. Beenden wir es«, hörte sie die vertraute Stimme ihrer Mutter und atmete erleichtert aus.
Dann öffnete sie die Augen und wagte wenige Sekunden später einen Blick hinter dem Baum hervor. Der Himmel war hell, denn der Mond schien auf sie herab. Die Wolken hatten sich verzogen, es regnete nicht mehr, und es roch nach einer lauen, feuchten Sommernacht, nach Moos und Gras, nach Wald und Wiese.
Ein schöner Geruch, sie liebte diese Jahreszeit, und doch war dies der schlimmste Moment ihres Lebens. Denn nun erblickte sie das Loch im Boden, hörte das Bündel leise wimmern, das in diesem Moment in einer Kiste verstaut in den Boden gelegt wurde.
Sie hörte das Schluchzen der Frauen, die sich an den Händen hielten.
»Es muss sein«, hörte sie die weinende Stimme ihrer Mutter.
»Aber so?«, fragte ihre Schwester. Nein, nicht so, dachte sich Josefa und betete, sie mögen sich umentscheiden, das Bündel herausholen und an sich nehmen.
Der Vater würde sich schon wieder beruhigen, so wie er es immer tat.
»Ich kann ES nicht töten, es muss von allein sterben«, hörte sie ihre Mutter flüstern, dann schwiegen die Frauen wieder, die einst Josefas Vorbilder gewesen waren.
Die sie in den Schlaf gewiegt hatten, mit denen sie gebetet und gekocht hatte. Die jede Nacht neben ihr eingeschlafen waren.
Würde sie ihnen jemals wieder in die Augen sehen können, fragte sich das Mädchen und schüttelte den kindlichen Kopf. Ihre Zöpfe hingen ihr lang über die Schultern, sie war noch so klein und doch so weise, wie viele Menschen nie in ihrem Leben werden würden.
Dann schrie das Baby und das grelle katzenartige Geschrei ging Josefa durch Mark und Bein. Sie musste weinen, hielt sich die Hände vor den Mund und ekelte sich vor ihrer Familie.
Sie zitterte.
Panik ummantelte ihren Körper und ihren Geist.
Abscheu fühlte sie, als sie ihre Mutter und ihre Schwester vor diesem Grab stehen sah.
Das Geschrei des Babys übertönte alle anderen Geräusche. Der Wind und die Blätter, einfach alles Schöne wurde durch dieses Geheule, das nun in ein Wimmern überging, überschattet.
Das Weinen wurde leiser und mit jedem Schaufelhieb Erde auf den Sarg verstummte das Baby mehr und mehr. Dieses Baby hätte eigentlich Josefas Schwester sein sollen. Es würde ihre Schwester sein, sie würde dafür sorgen, denn sie konnte dieses schutzlose Kind nicht der Erde überlassen. Auch wenn sie dafür ihre Mutter und ihre Schwester verriet. Es war ihr egal, denn sie hatte einen eisernen Willen, wenn es um Gerechtigkeit ging.
Ihre Mutter und ihre Schwester schluchzten, lagen sich in den Armen und standen ewig vor dem Grab.
Plötzlich war das Baby nicht mehr zu hören.
Josefa wurde immer unruhiger und nervöser.
Sie musste es ausgraben. Mutter und Schwester sollten endlich verschwinden. Also musste sie etwas unternehmen, sonst würde es sterben. Sie sah sich um, blieb aber wie angewurzelt stehen, sie durfte sich nicht verraten. Nicht so nah am Ziel. Dann nahm sie einen Stock, der neben dem Baum lag. Sie warf ihn, so weit sie konnte in irgendeine Richtung, es war egal. Hauptsache, die beiden erschraken sich.
»Mutter, was war das?«, flüsterte ihre Schwester, und ihre Mutter packte sie am Handgelenk.
»Lauf!«, hörte Josefa noch, bevor sie anfingen zu rennen. Sie liefen durch den Wald, vermutlich nach Hause. Legten sich neben ihre Schwestern ins Bett und schliefen. Taten so, als wäre nichts geschehen. Sie würden behaupten, beide Babys wären gestorben. Kein Hahn krähte damals nach einem verstorbenen Kind, schon gar nicht nach einem Mädchen.
Josefa sah sich um und traute sich zuerst nicht aus dem Versteck, denn sie begann zu zweifeln. Was sollte sie tun, fragte sie sich immer wieder. Dann lief sie die wenigen Meter zum Grab und fing an zu buddeln. Sie hatte keine Schaufel dabei, denn ihre Mutter hatte diese in der Hand gehabt, als sie davonliefen. Dem Mädchen rannen Tränen über die Wangen, und sie schluchzte und schrie, denn ihr Weltbild war zerstört.
Ihre Finger gruben sich tiefer in die Erde, der Dreck klebte an ihren Händen, unter ihren Nägeln.
Sie heulte und wischte sich immer wieder mit den Händen übers Gesicht. Sie weinte um das Ansehen ihrer Mutter, das nie wieder zurückkehren würde. Denn eine Mutter tötete nicht ihr eigen Fleisch und Blut, nur um dem Mann seinen Willen zu lassen. Sie war feige, und das würde Josefa ihr niemals verzeihen.
Als sie die Kiste berührte, stockte ihr der Atem, und als sie den Schrei aus dieser wahrnahm, sprang sie auf.
Sie erschrak und hatte unheimliche Angst vor dem Wesen unter dem Deckel.
Sie atmete ein und aus, beruhigte sich, denn von dem Baby konnte keine Gefahr ausgehen, redete sie sich ein. Sie musste klar denken, also nahm sie die Kiste, befreite sie von der letzten Erde und öffnete den Deckel, der nur draufgelegt war. Als sie dann das rote Gesicht des Babys sah, das wie verrückt schrie und schon ganz aufgelöst wirkte, nahm sie es an sich und wiegte es hin und her. Das Baby krächzte aus Leibeskräften, und Josefa weinte um ihr Leben.
Was sollte nun werden?
Tränenüberströmt, blutig und klebrig von den Resten der Geburt, lief sie Stunden später durch die Dämmerung ins Nachbardorf. Sie hatte nur eine Chance und hoffte, diese wäre die Richtige. Das Baby hielt sie fest und geschützt am Körper. Es war erschöpft und vermutlich vor Hunger und Angst eingeschlafen. Sie lief und hoffte und betete, niemand möge sie sehen. Und dann sah sie das Haus und musste sich entscheiden.
Sollte sie das Baby dorthin bringen? War es richtig?
 Sie sah auf das kleine Wesen in ihren Armen und traf eine Entscheidung, die ihr Leben, das dieses Babys und ihrer Familie in eine andere Richtung lenkte, für immer. Unwiderruflich.

 

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Donnerstag, 26. Dezember 2019

Todesblock Leseprobe

 Leseprobe zu "Todesblock"

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1985: Leichenblock

Ein grauer Novembertag in einem heruntergekommenen Wohnblock in der Nähe von Passau. Hier lebten Menschen, die keine andere Wahl hatten, Drogensüchtige, ehemalige Obdachlose, Prostituierte, Alkoholiker oder einfach Gescheiterte. In der Kleinstadt gab es keine extremen Viertel, aber doch Plätze, die man nicht als Vorzeigeobjekte sah. So wie dieser Block, der im Regen und Nebel dahinvegetierte.
Der hässliche braune Anstrich des Wohnblocks hatte auch schon mal bessere Tage gesehen. Der Gestank von Pisse und Kotze lag in der Luft. Überall blätterte der Putz von den Wänden, die Scheiben der alten Fenster waren angelaufen und Berge von Müll standen auf den Balkonen herum.
Kaputte Wäscheständer, ungeputzte Grills, Alkoholflaschen, tote Tiere lagen dort ebenfalls. Vor dem Haus, ein kleiner Spielplatz mit kaputten Geräten, hier spielte niemand gern.
An manchen Fenstern hing eine Sat-Schüssel, Fernsehgeräusche hörte man aus jeder Wohnung oder Musik. Ruhig war es hier selten. Streit an der Tagesordnung.
Acht Wohnungen gab es in dem Block, die alle voller Schimmel und Ungeziefer waren. Manche waren gepflegter als andere und doch alle baufällig. Insgesamt lebten 17 Menschen in dem Block.

Ein alleinstehender Alkoholiker, 68 Jahre alt. Seine Lieblingsbeschäftigung waren die Nachmittagssendungen im TV.
Ein älteres Paar, das früher auf der Straße gelebt hatte und jetzt seinen Lebensabend am liebsten auf dem Balkon verbrachte.
Eine WG von zwei Jungs und einem Mädel, alle waren 24 Jahre alt und drogenabhängig.
Eine alleinstehende Frau, 54, die auf die schiefe Bahn geriet, als ihr Sohn wegen Mordes ins Gefängnis musste. Sie arbeitete als Putzfrau und besuchte ihren Sohn jeden Monat.
Eine serbische Familie mit zwei Kindern, die unbedingt weg von diesem Elend wollte.
Eine alleinerziehende Frau, 44 und ihr Sohn 18, der mit Drogen dealte.
Eine alleinerziehende Zweifachmama von Kleinkindern im Alter von 3 und 5 Jahren.
Ein Ex-Häftling, der sich nur in der Wohnung aufhielt und seine Lebensmittel alle online bestellte.

Das waren die Menschen hinter dem Block. Menschen, unschuldig geboren, in eine Welt, in der sie scheiterten. Und doch lebten sie. Noch ... Zwei Tage schon war es ruhig in dem Block, keine Menschenseele in Sicht. Obwohl es nass und regnerisch war, machte sich ein Nachbar so seine Gedanken. Dieser Nachbar saß im Block gegenüber, vor seinem Fenster war ein Autospiegel angebracht, um alles genau beobachten zu können.
Tagein tagaus saß er dort und beobachtete die Menschen, die Balkone, die vorfahrenden Autos und den Streit hinter den Fenstern.
Nun aber sah er im gegenüberliegenden Block seit Tagen nichts mehr, was ihm seltsam vorkam. Die Balkontüren waren alle geschlossen, die Fenster ebenso. Die Haupteingangstür rührte sich nicht.
Es war noch nicht mal sechs Uhr abends, als er das Telefon nahm und die Wählscheibe benutzte, um die Polizei zu verständigen.
Belächelt wurde er, aber eine Streife wurde dann doch vorbeigeschickt. In seinem gammeligen Hemd, seiner alten Jogginghose und mit den fast 200 Kilo wartete er rauchend vor seinem Block.
„Hier, das ist er.“ Mit einer Hand deutete er auf den braunen Bau, der elendig und ruhig vor ihnen lag.
„Sie können wieder rein gehen, wir sehen nach und geben Ihnen dann Bescheid.“
„Meinetwegen“, antwortete er, blieb aber vor seinem Block stehen.
Die beiden Polizisten drückten zuerst auf eine der Klingeln, dann auf eine andere, letztendlich betätigten sie alle Knöpfe, das konnte der Nachbar beobachten.
Sie sahen sich verstohlen um.
Dann passierte erst mal nichts, die Beamten gingen um den Block, schauten zu den Fenstern hoch, gingen zurück zum Wagen. Sie nahmen das Funkgerät in die Hand, dann gingen sie zurück zum Haus. Gewaltsam öffneten sie die Eingangstüre und verschwanden dahinter.
Genau sieben Minuten später sah der Nachbar die beiden Beamten aus dem Haus stürmen, noch bevor die Tür sich schloss, übergab sich einer von ihnen, mitten auf dem Gehweg. Gänsehaut lief dem Nachbarn über die Haut, denn in den Gesichtern der Polizisten sah er blankes Entsetzen.

Montag, 2. September 2019

Auszug aus meinem neuen Psychothriller "Die Tramperin"

"Die Tramperin"

 Hier der Link zum Buch.


Fünf Jahre später

Sophia

Sophia Keller war dreiundzwanzig Jahre alt, trug ihre langen braunen Haare meist zu einem Pferdeschwanz und war einen Meter sechzig groß. Sie war sehr schlank, trug immer eine ausgewaschene Jeans und eine Lederjacke und machte sich, wie jeden Tag, auf den Weg zur Schnellstraße, unweit ihres Zuhauses entfernt. Sie nahm immer den gleichen Weg, genau den, den sie vor vier Jahren auch genommen hatte. Ihre Kamera, die sie sich mühsam mit ihrem Hartz-IV-Geld zusammengespart hatte, hing um ihren Hals. Auch wie jeden Tag. Die Bewohner des kleinen bayrischen Ortes, unweit von München entfernt, kannten die Tramperin, die Verrückte, die Irre, wie sie viele bezeichneten. Sie war hübsch, aber jeder wusste, sie war nicht ganz dicht. Die Menschen mieden sie, doch immer wieder nahm sie auch wer mit, aus Mitleid oder Barmherzigkeit, genau wusste man das nicht. Sophia hatte niemanden und brauchte niemanden. Sie war auf der Suche nach etwas, das sie verloren hatte. Vor fast fünf Jahren. Niemand hatte ihr damals geglaubt. Nicht die Polizei, nicht ihre Familienhelferin, nicht ihre betrunkene Mutter. Niemand. Sie war allein und würde immer allein sein, bis sie das wiederfinden würde, was sie verloren hatte. Vergessen war das bessere Wort dafür.
Es war der 26. Mai 2018, fast fünf Jahre später, als sie wieder auf der Schnellstraße entlangging, nicht mehr taumelte, wie damals. Sie hatte den Drogen abgeschworen, denn nun hatte sie eine Mission und dazu musste sie clean sein. Sie hatte es geschafft. Sie brauchte keine Familienhelferin, denn sie war nun kein Teenager mehr. Sie brauchte keine Mutter mehr, denn die hatte sich totgesoffen. Sie brauchte niemanden mehr. Nur noch diese Straße. Jeden Tag, tagein, tagaus. Der erste Akt des Tages war, in die Tankstelle zu gehen, sich eine Cola light und einen Donut zu kaufen und mit der Kassiererin zu sprechen. Es waren drei Kassierinnen beschäftigt, mit denen sie täglich sprach. Sie hatte ein Bild von der Frau angefertigt, die sie damals beraubt hatte, und es den Kassiererinnen gegeben. Sie sollten sich das Kennzeichen der Dame notieren, sollte sie in die Tankstelle kommen. Doch seit fünf Jahren passierte nichts, kein Anruf, keine Notiz für sie. Niemand nahm sie ernst, alle dachten, sie wäre eine Verrückte. Aber was wussten die schon, dachte sich Sophia. Sie kannte die Wahrheit. Nur sie allein, und irgendwann würde sie es beweisen können.
Sie trank die Cola light, aß den Donut und verabschiedete sich dann von der Kassiererin, die ihr lächelnd zunicke, als sie die Tankstelle verließ.
Die Sonne strahlte vom Himmel, als sie die Schnellstraße entlangging und jedes Auto genau beobachtete. Wenn sie dachte, es könnte die Frau von damals sein, machte sie ein Foto vom Nummernschild. Doch bisher war sie erfolglos. Unzählige Bilder hatte sie geschossen, keines führte sie zu ihrem Sohn. Einmal die Woche stapfte sie zur Polizei, mit der Bitte, sich die Nummernschilder anzusehen und ihr Bescheid zu geben, ob das Auto einer Frau Anfang vierzig gehörte. Damals war diese blond und schlank gewesen, und bestimmt hatte sie viel Geld. Sophia wusste noch, wie sie sich gedacht hatte: Oh Mann, trägt die Alte Klunker um den Hals und Ringe an den Fingern. Doch diese Beschreibung passte wohl auf Tausende von Frauen zu. Der Glaube daran, sie irgendwann zu finden, hielt sie am Leben. Das war die einzige Hoffnung, die sie noch hatte. Ansonsten müsste sie aufgeben, und das würde ihren Tod bedeuten. Ohne ihren Sohn hatte und hätte alles keinen Sinn mehr. Die letzten Jahre hatte sie sich nur mit dem Gedanken an ihn, an seinen Geruch, seine Grübchen, seine Pölsterchen an den Armen vor einem letzten Schuss, dem tödlichen Schuss bewahrt.
Doch dieser Maitag, der ungewöhnlich warm war und das, obwohl es erst kurz vor Mittag war, änderte alles. Sophia hielt einen Stock in der Hand, den sie drehte und mit dem sie Steine wegkickte. Hätte sie nicht so ein erbärmliches Leben, wäre dieser Tag ein Geschenk. Die Sonne schien, sie war umgeben von Wald und es war still. Bis auf die Autos, die ab und zu vorbeisausten. Bisher waren es nur Männer, keine einzige Frau war vorbeigekommen. Sophia schwelgte in Erinnerungen an alte Zeiten. Zeiten, die im Nachhinein gar nicht so übel waren, doch wirklich gut waren sie auch nie. Ihren Vater kannte sie nicht, die Mutter war eine Trinkerin, die ihr nie genügend Liebe geben konnte. Geborgenheit, Liebe, Verständnis, das waren die Dinge, nach denen sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte. Durch die Geburt von Adam hatte sich alles geändert und doch eigentlich kaum etwas. Sie hatte das Kiffen und das Trinken nicht aufgegeben, obwohl sie wollte. Die Versuchungen waren zu groß. Dennoch kümmerte sie sich liebevoll um Adam, das wusste sie tief in ihrem Innern. Auch wenn die Dämonen, die sie oft nachts heimsuchten, ihr etwas anderes ins Ohr flüsterten.
Sophia zuckte zusammen, ihre Erinnerungen verloren an Kraft, denn sie hörte endlich wieder einen Wagen hinter sich. Sie drehte sich um, denn der Wagen kam von der Richtung, aus der auch sie kam. Sie sah ihn schon von Weitem. Er war weiß, genauso wie der vor fünf Jahren, und ihr Herz blieb beinahe stehen, denn ein weißes Auto war selten, wie sie die Jahre feststellen musste. Es kam näher und näher, ihre Hände wurden nass, die Beklemmung nahm zu, die Angst stieg ihr in den Magen. Es war ein großer Wagen, dann blendete sie plötzlich die Sonne. Scheiße, dachte sie sich und hielt sich die Hände vor die Augen. Die Brust zog sich zusammen, ihr Körper war angespannt, als SIE an ihr vorbeifuhr: Es war eine Frau. Sophia erkannte blonde, lange Haare und blickte ihr für eine Sekunde in die Augen. Auch die Frau musterte sie und für wenige Augenblicke schien die Welt stillzustehen. Das Auto wurde sichtlich langsamer, bevor die Frau ihren Mund aufriss und Gas gab. Die Reifen quietschten und Sophia blieb geschockt und ungläubig stehen, denn diese Frau war die von damals. Das Auto zischte davon. Sophia drehte sich um, sah den Wagen von hinten und machte sofort ein Foto, so wie sie es schon unzählige Male zuvor gemacht hatte. Aber das Zittern in ihren Händen führte dazu, dass das Bild verschwommen war. Scheiße. Nervös blickte sie sich um, sprang hin und her, wollte Hilfe, doch niemand war hier, aber sie musste hinterher. Vergeblich begann sie zu laufen, genau wie damals, als sie hinter dem Wagen hergespurtet war. Das alles durfte sich nicht wiederholen, sie musste diese Frau einholen. Schnaufend hielt sie im Lauf an, bückte sich und krümmte sich, atmete abgehackt ein und aus. Ihr Kreislauf machte nicht mehr mit, es wurde ihr schon schwarz vor den Augen, sodass sie sich an den Straßenrand setzen musste. Sie atmete ein und aus, so wie es ihr die Psychologin damals beigebracht hatte. Ein- und ausatmen, langsam, immer wieder. Ihr Oberkörper pochte, sie legte sich neben die Straße, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und schloss die Augen. Das Nummernschild, sie sah sich das Bild auf ihrer Kamera an. BGL TT 2... Die letzten Ziffern waren so verschwommen, dass sie sie nicht mehr identifizieren konnte. Scheiße, Mann. Sie fluchte, schwitzte, denn sie war es. Die Frau von vor so vielen Jahren. Sie war sich sicher. Dann hörte sie ein Geräusch, schnell setzte sie auf, denn vielleicht war das Auto ja umgedreht, was völlig sinnlos wäre. Ein Auto kam neben ihr zum Stehen. Ein Hupen. Infolge dessen stand sie auf und musterte den Mann, der sie verwundert anstarrte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er und sah sie von oben bis unten an.
»Nein, nein. Ich wurde ausgeraubt. Eine Frau in einem weißen Wagen. Ich bin mit ihr mitgefahren. Dann hat sie mir meine Sachen geklaut und mich rausgeschmissen«, log Sophia und wusste zugleich nicht, weshalb. Sie brauchte Hilfe, sie wollte, dass ihr jemand half. Aber in den letzten Jahren hatte sie gelernt, dass ihr die Wahrheit niemand glaubte. Weder die Polizei noch Freunde oder Familie. Nur sie allein kannte die Wahrheit, wenn es denn eine Wahrheit gab.
»Wollen Sie mitfahren? Ich kann Sie in die nächste Stadt mitnehmen. Dann können Sie zur Polizei gehen«, bot ihr der Mann an, den sie auf Mitte dreißig schätzte. Sie nickte und setzte sich auf den Beifahrersitz, denn sie konnte nicht mehr laufen, wollte auch nicht mehr.
»Wohin fahren Sie?«, fragte sie den Mann.
»Nach Berchtesgaden«, antwortete er und sie überlegte. Die Buchstaben des Nummernschildes waren doch aus Bergisch Gladbach, und Berchtesgaden lag doch dort, oder nicht? Obwohl sie sich nicht sicher war, beschloss sie, es zu versuchen.
»Kann ich mitkommen?«, fragte sie und er sah sie erstaunt an. Ihre Gedanken kreisten nur noch um BGL, das Kennzeichen der Frau. Bergisch Gladbach. Natürlich konnte sie sich vorstellen, wie viele Menschen dort lebten, trotzdem, sie würde diese Frau finden. Sophia öffnete ihren Rucksack und begutachtete den Inhalt so, dass der Fahrer es nicht sehen konnte. Denn er durfte natürlich nicht sehen, dass sie ihr Geld und alles noch bei sich hatte. Sie hatte ihre Karte dabei, Bargeld und den Ausweis. Nichts und niemand könnte sie von ihrem Plan abbringen, denn sie hatte nichts mehr zu verlieren. Alles, was ihr je wichtig gewesen war, war verloren, gestohlen.
»Ja, du kannst mitkommen. Entschuldige, darf ich dich dutzen?
„Ja, natürlich“, antwortete sie. 
„Was willst du dort in Berchtesgaden?«
»Ich will die Frau finden. Sie hatte ein Bergisch Gladbacher Kennzeichen. Ich werde dort zur Polizei gehen«, antwortete sie und fühlte sich gut. Ja, sie würde die Frau finden und sie würde es ihr heimzahlen. Etwas mehr als eine Stunde dauerte die Autofahrt, die sie mit Small Talk verbrachten. Der Mann, der Tom hieß, war nett. Er war ganz normal und anständig, hatte einen Sohn, wie er ihr erzählte, und sie stellte sich ihn als guten Vater vor. Sie hatte ihren nie kennengelernt, was ihr nichts ausgemacht hätte, wäre ihre Mutter da gewesen. Doch irgendwann war diese dem Alkohol verfallen und ab da war Sophia allein. Das Schnarchen der betrunkenen Mutter, die Männer, die sie mitgebracht hatte, konnten die Einsamkeit in ihrem Herzen nicht stillen. Denn keiner hörte ihr zu, niemand interessierte sich für sie.
»Hier ist die Polizeistelle, hier kannst du Anzeige erstatten«, erklärte ihr Tom und riss sie aus den Gedanken.
»Kommst du von hier?«, wollte sie von Tom wissen und er nickte. »Ja, da drüben, auf dem Hügel. In dem kleinen Ort lebe ich.« Sie sah hinüber, die Sonne schien auf die grünen Wiesen und sie konnte es sich bildlich vorstellen, wie seine Familie dort lebte. Glücklich, liebevoll, in einem schönen Haus.
Sie nickte, dann stieg sie aus und ging in die Polizeiwache, trat ein und wurde von einem kahlen Gang empfangen. Links war eine Art Rezeption, wenn man das so nennen konnte. Ein Glasfenster, dahinter zwei Polizisten. Beinahe wäre sie hingegangen, hätte in das kleine Loch im Glas gesprochen und ihre Geschichte geschildert. Wie so oft in ihrem Leben. Doch sie entschied sich dagegen. Entschlossen drehte sie sich um, sah durch die Glastür Tom wegfahren und trat wieder hinaus. Die Sonne blendete sie und sie sah sich um. Jetzt war sie also in Berchtesgaden. Hier irgendwo lebte diese blonde Frau, die ihr Leben zerstört hatte. Das Auto würde sie erkennen, es war dasselbe wie vor fünf Jahren. Das könnte sie beschwören. Ein Mercedes. Nicht das neueste Modell, wie ihr die Polizisten damals mitgeteilt hatten.
Wie sollte es nun weitergehen, frage sie sich. Sie brauchte eine Übernachtungsmöglichkeit, denn sie würde hier viel Zeit verbringen. Vermutlich wieder Jahre. Aber irgendwann würde sie die Frau finden, da war sie sich sicher. Und dann würde sie sie zur Rede stellen. Sophia sah sich um und entdeckte eine Touristeninformation, auf die sie zusteuerte.
»Ich suche eine günstige Übernachtungsmöglichkeit«, erklärte sie dem jungen Mädchen, das hinter dem Tresen stand.
»Es gibt in Berchtesgaden sehr viele Unterkünfte. Wenn Sie was Günstiges suchen, dann ist eine Pension das Richtige. Möchten Sie im Zentrum sein oder lieber auf einer der Bergstationen?«
»Lieber hier im Ort«, entgegnete Sophia.
Das Mädchen gab ihr eine Karte mit, in die sie mehrere Pensionen eingezeichnet hatte, jede hatte Zimmer frei. Und eine davon hatte die perfekte Lage. Direkt gegenüber der Gemeinde, eines Supermarktes und des Kindergartens. Alles war gut zu beobachten von hier aus. Als Sophia die kleine Pension betrat, roch es nach Nässe und Feuchtigkeit, oder besser gesagt nach Moder. Sophia konnte den Geruch nicht wirklich deuten und sah sich um, niemand war zu sehen oder zu hören.
Dann endlich nach einigen Minuten und unzähligen »Hallo«-Rufen kam ein alter Mann auf sie zu.
»Ich suche ein Zimmer. Am bestens eins hier raus«, sie deutete mit der Hand auf den Platz vor der Pension.
»Meine Tochter ist nicht da. Aber wir haben noch ein Zimmer im dritten Stock frei, das in diese Richtung geht. Aber Mädel, die Bezahlung musst du dann mit der Tochter abklären. Gell, lass mir deinen Ausweis da, dann passt das schon«, Sophia konnte ihr Glück kaum fassen, als sie von dem Mann in ihr Zimmer geführt wurde. Der Alte sah sie intensiv an, was ihr ein mulmiges Gefühl verursachte, schnell blickte sie wieder zu Boden. Blickkontakt konnte sie noch nie gut halten.
»Was suchst du denn bei uns?«, fragte der alte Mann, und sie fühlte sich ertappt. »Nun, gut. Ich lasse dich ja schon allein. Komm am Abend zu meiner Tochter, dann kannste zahlen.« Dann drehte er sich um und ging hinaus. Der Schlüssel steckte noch in der Tür und Sophia schloss sofort ab.
Sie atmete erleichtert aus, als sie endlich allein war. So viele Gefühle schossen ihr durch den Kopf. Müde und ausgelaugt setzte sie sich aufs Bett und schnaufte durch. Für heute wollte sie es gut sein lassen, zu viel war geschehen, zu viel Unruhe war in ihrem Körper. Ihre Augen fielen ihr beinahe zu, als sie das Fenster öffnete und danach mit ihren ganzen Klamotten aufs Bett fiel.
Einige Stunden Schlaf würden ihr guttun. Doch wie immer schreckte sie aus dem Traum empor, nur wenige Minuten nach dem Einschlafen. Sie sah sich selbst auf der Schnellstraße, umgeben von dem Wald. Dann fuhr der weiße Wagen vor, die Sterne über ihr leuchteten und dann sah sie die roten Augen der Frau im Wagen und wachte auf. Schweißgebadet fing sie an zu heulen. Diese Nacht vor fünf Jahren hatte alles zerstört. Einfach alles.

Freitag, 17. Mai 2019

Pure Emotionen: Leseprobe zur Neuerscheinung TOTENBETT

Pure Emotionen: Leseprobe zur Neuerscheinung TOTENBETT: Hier geht es zum Buch: Totenbett Vor fünf Jahren - wie alles begann Svetlana Das Blut war nicht zu sehen, denn die Leiche war zugedeckt, ...

Leseprobe zur Neuerscheinung TOTENBETT

Hier geht es zum Buch: Totenbett


Vor fünf Jahren - wie alles begann

Svetlana

Das Blut war nicht zu sehen, denn die Leiche war zugedeckt, als würde sie friedlich schlafen. Nur die schwarzen, langen Haare schauten unter der Bettdecke hervor und sogar in dieser Situation wirkten sie noch verführerisch. Nichts ließ im Geringsten erahnen, wie grausam der Körper der Toten zugerichtet war.
Das Schlafzimmer, in dem sie lag, war aus Holz gezimmert, genauso wie die übrige Hütte, die so romantisch vor einem See lag, dass sie auf eine Postkarte gedruckt hätte werden können. Das Bett neben der Toten, war leer. Doch noch nicht lange. Würde jemand mit der Hand über das Laken streichen, so wäre es vielleicht sogar noch warm.
Die Tote hieß Svetlana Baranski. Wieso sie hier lag, in diesem Haus und offenbar ermordet wurde, das war die große Frage. Doch im Moment fragte sich das noch niemand, denn keiner wusste, dass sie tot war. Vermutlich ahnte sogar niemand, dass sie hier war. Denn zu Peter Beck, ihrem Verlobten, hatte sie ganz was anderes gesagt. Sie hatte gelogen und wieder war die Frage, wieso?
Der Mann, der gerade von einer kurzen Joggingrunde zurückkehrte, verschwitzt und verwirrt war, den sein Gewissen plagte, wischte sich die Haare vom Gesicht und öffnete dann die Tür zum Schlafzimmer. Er musste nach dieser Nacht unbedingt raus, doch lange hielt er nicht durch, das schlechte Gewissen trieb ihn zurück in das Haus, das er nur allzu gut kannte. Denn es war sein eigenes Ferienhaus, das er oft mit seiner Familie aufsuchte um zu entspannen und dem Alltag zu entfliehen.
Der Mann, dessen Name Anton Beck war, wusste, sie lag darin und ein Schauer fuhr ihm durch den ganzen Körper, als er ihre Haare sah, die ihm offenbarten, dass sie wirklich noch im Bett lag. Es war kein Alptraum, es war alles real gewesen in der Nacht. Ausgerechnet sie, dachte er sich!
Langsam schlich er sich an sie heran, er hatte Angst, denn das, was er getan hatte, war unverzeihlich. Obwohl es all seine Prinzipien sprengte, hatte er sich auf sie eingelassen. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals, als er um das Bett herumging und sie wecken wollte. Behutsam setzte er sich ans Fußende des Bettes und legte seine Hand auf ihre Oberschenkel, die von der dicken Bettdecke gewärmt wurden. Nicht nur er hatte einen Fehler begangen, auch sie. Svetlana war eine Lügnerin, eine Betrügerin und dennoch hatte er mit ihr geschlafen, nicht nur einmal. Nachdenklich schaute Anton aus dem Fenster, das die gesamte Front des Zimmers einnahm und blickte auf den See, der ruhig und eiskalt im Nebel vor ihm lag. Bevor er sie weckte, gönnte er sich noch einen winzigen Moment Ruhe, denn danach würde die Hölle über ihn hereinbrechen. Die Bilder der vergangenen Nacht schossen ihm wie Blitze durch den Kopf.
Blitz - Als er vor gefühlt einer Ewigkeit, in Wirklichkeit waren es keine zwölf Stunden, die Autotür öffnete und sie sich herunter bückte, um ihn zu begrüßen. Sie riss die Augen auf, er war irritiert, denn er erkannte sie erst auf den zweiten Blick. Sein Herz pochte, als sie einstieg, denn er wusste nicht, was er tun sollte. Das Logischste wäre gewesen, sie darauf anzusprechen, was sie hier tat. Doch natürlich wusste er es, er hatte nur nicht mit ihr gerechnet. Mit einer anderen Frau ja, aber nicht mit Svetlana Baranski, die einen Tag zuvor noch mit ihm einen Kaffee getrunken hatte, in der Wohnung seines Sohnes.
Anton Beck drehte sich ein wenig, um Svetlana betrachten zu können. Ihre dunklen, dichten Haare fielen ihr übers Gesicht, sie schien tief und fest zu schlafen. Verflucht, was sollte er tun? Einfach abhauen, ging es ihm durch den Kopf. Aber das wäre feige und das konnte er nicht tun. Eine Aussprache und Absprache mussten her. Aber er brachte es nicht über sich, sie zu wecken, denn er hatte vor dem Gespräch mit der Verlobten seines Sohnes, die er einen Abend zuvor hemmungslos gefickt hatte. Mehrfach, und wenn er daran dachte, wünschte er sich, er könnte es noch einmal tun. Tief in sie eindringen, die Leidenschaft spüren, ihren Körper riechen und schmecken. So wie er es die Nacht über getan hatte, immer wieder, bis sie eingeschlafen waren und er so glücklich, wie seit Jahren nicht mehr gewesen war.
Aber all das Warten auf das vermeintliche Gespräch brachten ihm nichts, also nahm er all seinen Mut zusammen, stand auf und berührte sie sanft, dann etwas energischer, an der Schulter.
„Svetlana!“, flüsterte er und streichelte sie zärtlich an der Wange. Erschrocken zog er seine Hand wieder zurück, denn das Gesicht von Svetlana war ungewöhnlich kühl. Seine keuchenden Atemzüge durchschnitten die Stille, als Anton an ihr rüttelte.
„Svetlana!“ Wieder nur ein Flüstern, denn er traute sich nicht, ihren Namen laut auszusprechen.
Zögerlich zog er die Bettdecke nach hinten und ihr nackter Oberkörper kam zum Vorschein. Doch das, was er nun sah, ließ ihm den Atem stocken. Das ganze Bett war rot durchtränkt. So viel Blut hatte er noch nie gesehen. Er riss die Bettdecke beiseite, stolperte nach hinten, bis er die Wand berührte, weiter konnte er nicht fliehen. Was in Gottes Namen war hier geschehen?, fragte er sich, doch er konnte keinen rationalen Gedanken fassen. Minutenlang blickte er auf die leblose Svetlana, die in ihrem eigenen Blut lag, und durch Dutzende Messerstiche in Bauch und Brust getötet worden sein musste.
Fassungslos starrte er auf seine zitternden Hände und begriff nicht, was um ihn herum geschehen war. Nach endlosen Minuten stand er langsam wieder auf, immer noch an die Wand gelehnt, wandte er den Blick kaum vom Bett ab. Die Szene erinnerte ihn an einen Horrorfilm, eine nackte, wunderschöne Tote, umhüllt von weißen Laken, blutbeschmiert und er mittendrin.
Erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass der Mörder noch hier sein könnte, dennoch verspürte er keine Angst. Nicht deswegen, aber wegen Svetlana. Sein Körper fühlte sich wie nach einem Autounfall, er wusste nicht, was er machen sollte. War völlig hilflos. Sein Blick ging zu seiner Armbanduhr, die ihm seine Frau gestern zum gemeinsamen Hochzeitstag geschenkt hatte. Dann schluckte er schwer, denn sein Leben wäre nun vorbei. Er musste die Polizei anrufen, musste seiner Frau und seinem Sohn erklären, was hier vorgefallen war. Doch wie sollte er Zusammenhänge erklären, die er selber noch nicht zusammenfügen konnte? Nervös ging er vor dem Bett auf und ab. Sein Blick streifte das Fenster, in das jeder Wanderer blicken konnte. Hastig zog er die Gardinen zu.
Für ihn und seine Frau war es immer ein kleiner Kick gewesen, wenn Wanderer einige hundert Meter entfernt vorbeigingen und herüberblickten, während sie beide nackt im schützenden Bett lagen. Heute sah das alles ganz anders aus. Es war zehn Uhr vormittags, ein Samstag. Da er schätzungsweise nur etwa eine viertel Stunde joggen war, hatte er demnach kurz vor neun Uhr das Haus verlassen. Als er aufgestanden war, lag sie bereits genauso da, wie jetzt. Folglich musste es passiert sein, während sie geschlafen hatten. Aber wie konnte das sein? Nein, das war unmöglich, dachte er sich.
Dann erinnerte er sich an das Kokain, das Svetlana dabei hatte. Es hatte ihn in eine Welt aus Sex und Leichtigkeit katapultiert und er hatte die Stunden wie in Watte gepackt genossen. Danach war er weggedämmert. Er erinnerte sich noch daran, ihre Haut gespürt zu haben. Ab dem Moment wusste er nichts mehr. Als er aufgewacht war, fühlte er sich total gerädert und geplagt von einem schlechten Gewissen, das er nie wieder loswerden würde, da war er sich sicher.
Jedenfalls wäre das ein geringes Problem gewesen, gegenüber diesem Fiasko. Anton stand so unter Schock, dass er die Tote, seine zukünftige Schwiegertochter, total ausblendete und nur noch an seine eigene Haut dachte. Er musste hier unbeschadet herauskommen. Wenn seine Frau und sein Sohn davon erfuhren, wäre alles aus. Paula würde ihn verlassen, sein Sohn Peter ihn verachten und er würde seine Tochter Katharina, die Nachzüglerin nie wieder sehen. Denn er kannte Paula nur zu gut, sie war eine Hexe, wenn sie verletzt wurde. Eine gottverdammte Bitch und dafür liebte er sie eigentlich. Doch das, was er letzte Nacht getan hatte, würde sie ihm nie verzeihen. Er hatte mit seiner eigenen Schwiegertochter geschlafen, das könnte keine Frau ausblenden. Es war das Allerletzte und würde nicht nur seine Frau zerstören. Alle paar Sekunden wischte er sich mit dem Handrücken die Schweißtropfen von der Stirn. Sein Handy hielt er fest in der Hand, denn er musste endlich die Polizei rufen. Doch er tat es nicht. Nicht jetzt und auch nicht eine Stunde später. Er tat es nie.
Denn er legte sein Telefon beiseite und traf eine folgenschwere Entscheidung.
Stunden später setzte er sich in sein Auto, schloss einen Moment die Augen und startete dann den Motor, um sich auf den Weg zu seiner Familie zu machen.

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Mittwoch, 9. Januar 2019

Neue Leseprobe zu "Das Narbenmädchen"

2018: verlorene Jahre

Tanja

Jeden Tag ein Kreuz auf ihrem Körper. Eins heller und tiefer, eins größer und eins kleiner. Für jeden Tag ohne sie. Für jeden Tag Schuld. Für jeden Tag Reue. Sie waren wunderschön, fand jedenfalls Tanja. Doch ihre Eltern hassten sie dafür, nicht nur für das, auch dafür, dass sie damals aufgegeben hatte. Tanja spürte es, immer, deshalb war sie auch aus dem gottlosen Dorf ihrer Kindheit weggezogen. Jeden Scheißtag nahm sie den Zirkel ihrer kleinen Schwester, hielt ihn in der Hand und betrachtete ihn lange, bevor sie mit dem Zeigefinger über die Spitze fuhr. Dieser Zirkel bedeutete Tanja alles, denn er gehörte ihrer Schwester. Aber sie war weg und hielt immer noch durch, irgendwo in der Nähe ihres Zuhauses. Tanja hatte nicht durchgehalten, jedenfalls nicht so lange wie ihre kleine Schwester. Deshalb war diese noch immer weg und Tanja fristete ein Dasein auf der Straße. Sie irrte umher, mal in Rom, mal in Mailand, mal in Florenz. Immer auf der Flucht vor ihren Dämonen, die ihr zuriefen, welch ein schlechter Mensch sie doch war. Sie glaubte es, denn es war die verdammte Wahrheit. Wer ging schon das Risiko ein, auf dass die kleine Schwester einem Monster zum Opfer fiel? Nur schlechte Menschen – und Tanja war einer von diesen.
Neben der Angst, der Panik und dem schlechten Gewissen machte sich noch ein anderes Gefühl in ihr breit. Eins, das stärker war als alle anderen. Ihre Schwester war besser als sie, denn sie war noch fort. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe gewesen, andere zu schützen. Sie war schließlich die Erste, die Auserwählte. Aber sie hatte auf ihn gehört, auf ihn vertraut und alles riskiert. Danach hatte sie mehr verloren, als sie gewonnen hatte. Ihre Familie war zerstört, ihre Schwester verschollen und Tanja wusste genau, wo, aber konnte niemanden hinführen. Denn wenn das Wo etwas war, das man nur von innen kannte, wie sollte man den Weg dorthin finden?
Jahrelang hatte sie damit verbracht, das Haus zu suchen, doch sie war gescheitert. Immer wieder. Jetzt war sie ein Wrack, das jeden Tag mindestens einen Schuss brauchte, sonst würde sie ihr erbärmliches Leben nicht ertragen können. Sie hätte sich umbringen können, aber dann würde sie nie herausfinden, ob ihre Schwester auch irgendwann aufgeben würde. Oder hatte sie keine Wahl, nicht so wie Tanja selbst sie gehabt hatte? Hatte er seine Strategie geändert? Hatte er mehr Gefallen an ihr gefunden? Sie hatte keine Antworten darauf, als sie den Zirkel in die rechte Hand nahm und eine freie Stelle zwischen ihren Oberschenkeln suchte. Dann ritzte sie einen etwa einen Zentimeter großen Strich und dann den zweiten. Es tat nicht weh, es war ein erleichterndes Gefühl, das Tanja spürte, und sie war stolz auf ihre Kreuze. Keinen Tag ohne Mimi hatte sie vergessen, keinen Einzigen. Sie weinte, als sie sich nach dem Ritzen des Kreuzes eine Spritze in den Oberschenkel setzte, und ließ sich erleichtert zurückfallen, um in einen rauschenden Traum zu verfallen. Es tat so gut, so unendlich gut, nicht an den Schmerz zu denken, einfach zu sein, einfach zu leben.
Ihre Augen verdrehten sich, Sabber rann ihr aus ihrem Mund, ihre Hose hing zwischen ihren Beinen, aber all das nahm sie nicht wahr. Es würde eine Weile dauern, ehe sie wieder zu sich kommen und erneut in ihren eigenen Horrorfilm katapultiert werden würde.

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Freitag, 28. Dezember 2018

Psychothriller Neuerscheinung "Das Narbenmädchen"


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2008: Wie alles begann.

Tanja

Es war ein warmer, windiger Sommertag, als Tanjas bisheriges Leben endete und sie zu einer anderen wurde.
Sie war auf dem Heimweg von der Schule, verabschiedete sich von ihrer besten Freundin und war froh, dass Freitag war. Endlich Wochenende und das ohne Lernen, ohne bevorstehende Prüfungen, denn die Sommerferien standen kurz bevor. Sie freute sich auf elf Wochen schulfrei und sehnte sich nach Meer, Jungs und einer Sommerliebe. Eine Woche würde sie mit ihrer besten Freundin und ihrer ein Jahr jüngeren Schwester in einem Ferienlager in Bulgarien am Strand verbringen. Das erste Jahr ohne Eltern, es würde genial werden, da war sie sich sicher. Ihre Schwester Mimi war nicht nur ihre Schwester, sie war ihre Freundin, ein Teil von ihr, ohne den sie nicht sein wollte. Viele Jugendliche in ihrem Alter wollten nichts mit ihren kleinen Geschwistern zu tun haben, aber Mimi war nur elf Monate jünger als sie und genauso cool wie ihre beste Freundin. Zusammen waren sie ein tolles Team, auf immer und ewig.
Tanja war in Gedanken, als sie am Waldrand entlangging, nur wenige hundert Meter von ihrem Zuhause entfernt. Die Vögel zwitscherten, die Bäume wehten im Wind, es war pures Landleben, das Tanja manchmal ziemlich auf die Nerven ging. Irgendwann würde sie mit Mimi und Aurora, ihrer besten Freundin, eine WG gründen, da war sie sich sicher. Wie sie sich doch irrte, damals als sie noch jung und unschuldig und voller Träume war. Ein einziger Moment konnte alles ändern, alles zerstören, die Hölle heraufbeschwören. Sie bemerkte den Lieferwagen erst, als er direkt neben ihr anhielt. Sie sah irritiert zum Fahrer, der eine Sonnenbrille, eine schwarze Kappe und einen Schnurrbart trug. Er lächelte sie an, als er die Scheibe herunterließ.
»Entschuldige bitte. Kommst du von hier?«, fragte der Kerl und setzte sein freundlichstes Lächeln auf.
»Ja«, sagte sie kurz und knapp und ging einen Schritt zurück. Sie wusste, man musste vorsichtig sein mit Männern. Sie lernten es in der Schule und sie bekamen es von den Eltern eingebläut. Die Mädchen, alle von ihnen wusste es, denn Männer waren oft gefährlich. Nicht nur sie, auch Frauen, jeder hatte innere Dämonen, die einen zerfressen konnten. Doch dieser Kerl schien in Ordnung zu sein.
»Kannst du mir auf der Karte zeigen, wo diese Straße ist?«, er deutete auf einen Zettel und Tanja ging näher heran. Der Kerl öffnete von der Fahrerseite aus die Tür der Beifahrerseite und Tanja steckte ihren Kopf hinein und sah auf den Zettel. Sie konnte den Straßennamen nicht lesen, also streckte sie die Hand aus, nahm den Zettel und spürte sogleich den festen Druck, den die großen Hände des Mannes auf ihrer Hand verursachten. Denn er packte sie am Handgelenk, sein Lächeln war weg und Tanja gefror das Blut in den Adern. Alles zog sich in ihr zusammen und sie wusste, sie hatte einen Fehler begangen. Mit großer Wucht wurde sie in den Wagen gezogen, sie schlug sich das Knie unsanft an und schrie auf. Doch ihr Schrei wurde sofort erstickt, indem ihr der Mann den Mund mit einem Tuch zuhielt, dann sackte sie neben ihm zusammen.
Es wurde alles dunkel, aber sie wusste, was passiert war. Sie wurde entführt, ein Arschloch hatte sie in seinen Wagen gezerrt und sie wurde nun bewusstlos. Das alles geschah so schnell, sie hatte keine Chance, zu entkommen.

Freitag, 26. Oktober 2018