Montag, 18. Dezember 2017

Neue Leseprobe zu "Mord im Eis"


 Leseprobe zu "Mord im Eis"!




Gustav

Gustav sieht, wie die Polizisten alles absperren, wegen Finn. Er schüttelt immer wieder den Kopf, kann nicht glauben, dass seiner Familie das passiert. Gustav ist sich sicher, dass Finn sich nicht verlaufen hat, denn der Junge ist artig, hört auf ihn, weiß, wie gefährlich es nachts allein in der Natur, in den Wäldern ist.
Was Gustav allerdings nicht sieht, ist die Familie, die gerade schimpfend in ihr Auto steigt. Er hört nicht, was der Junge zu seinem Vater sagt. Er sieht nicht, wie verschwitzt der ihm fremde Junge ist, welche Panik in seinen Augen steht.
„Aber Papa, ich muss dir etwas sagen“, stottert der Junge, der ein blaues Auge trägt, das er seinem betrunkenen Vater zu verdanken hat.
Er wollte es ihm sagen, doch niemand hörte ihm zu, wie immer.
„Steig ein. Wo hast du so lange gesteckt, verdammt?“, flüstert der Vater, der nach Whisky stinkt, dem Jungen ins Ohr und packt ihn beim Genick.“
„Aber Papa, bitte. Ich ...“, aber der Vater lässt ihn nicht ausreden. Er schubst den Jungen in den Wagen, in dem bereits die verängstige Schwester und die Mutter warten. Dann lässt der Mann den Motor an und entkommt gerade noch der Absperrung, die die Polizisten nun errichten. Der Junge sieht vom Rücksitz aus durch die vereiste Glasscheibe, hinauf in die Wälder. Eine Träne rinnt ihm über das Gesicht, dann flüstert er zu sich selber:

„Es tut mir leid, Finn.“

Gustav, der von diesem Gespräch nichts mitbekommen hat, macht sich auf den Weg in den Wald, der direkt an den See grenzt. Er begleitet die Einsatzkräfte, in der Hoffnung, Finn zu finden. Er muss ihn finden, es kann nicht anders kommen. Es darf nicht so kommen wie damals vor genau sieben Jahren, als er alles verloren hatte, was ihm geblieben war. Und dann kam Finn, der Rettungsanker, denn nach allem, was ihm im Leben schon widerfahren war, fühlte sich Finn wie ein Engel an. Ein Engel, der ihn rettete.
Er wusste immer, dass dies ein schwarzer Tag war, doch er hätte nicht im Traum daran gedacht, erneut diesen Schmerz zu empfinden, und sogar noch schlimmer. Es gab also eine Steigerung der Angst, der Panik, denn er fühlte sie. Er würde es kein drittes Mal überstehen. Er hört nichts mehr. Nicht mehr die Geräusche des Waldes, nicht mehr die Stimmen der Einsatzkräfte und freiwilligen Helfer. Er ist wieder in der Vergangenheit an diesem gottverdammten Tag vor sieben Jahren.

Donnerstag, 7. Dezember 2017

Pure Emotionen: Leseprobe zu "Mord im Eis"

Pure Emotionen: Leseprobe zu "Mord im Eis": Link zum Buch: Prolog        Ich halte den Eisbrocken immer noch fest in meiner Hand und starre zu meinen Füßen, doch ich sehe ni...

Leseprobe zu "Mord im Eis"


Link zum Buch:

Prolog      

Ich halte den Eisbrocken immer noch fest in meiner Hand und starre zu meinen Füßen, doch ich sehe nicht das, was vor mir liegt, sondern weile in der Vergangenheit, bei meiner Frau, damals, als noch alles gut war.

Es war im Hochsommer vor zwölf Jahren, als ich meine Frau heiratete. Ganz traditionell, bürgerlich, spießig, mit Familie und Freunden. Ich erinnere mich noch genau, sie war so zierlich und zart wie eine Blume. Sie himmelte mich an und ich vergötterte sie. Wir waren fast zwei Jahre zusammen, bevor wir den Schritt vor den Traualtar wagten. Ich war mir sicher, sie war die Frau meines Lebens. Ich würde sie immer begehren, lieben und anbeten. Mein Herz pochte, als sich die Kirchentür öffnete und sie auf mich zukam. Die Kirche war voll, alle staunten, wie schön und elegant meine Braut war. Und ich konnte meine Tränen kaum zurückhalten. Nie werde ich den sanften Kuss vergessen, den wir uns nach dem Jawort fast nur zuhauchten. Es war ein ängstlicher, nervöser Kuss, doch von großer Bedeutung.
Und nun stehe ich hier, starre auf eine Leiche, vor mir das ewige Meer, hinter mir mein Untergang.
Was hat sie nur hierher verschlagen, meine liebenswürdige, schöne Frau? Oder wer hat sie hierhergelockt? Er war es. Der Mann, der nun tot vor mir liegt. Und wenn ich dachte, ich wäre stark, so merke ich nun, ich bin es nicht. Wie konnte ich nur zuschlagen?

Teil 1:
Heute

Norwegen, Winter 2017

Maria

Ich sehe einen blonden Jungen. Er läuft durch den dichten, schneebedeckten Wald. Springt über Äste und Steine. Ich höre seinen Atem, denn er läuft immer schneller. Er schreit um Hilfe, läuft vor irgendwem davon. Ich will ihm was zurufen, doch ich habe meine Stimme verloren. Der Wald wird immer dichter und ich sehe den Jungen fast nicht mehr, ich verliere ihn. Panisch sehe ich mich um, niemand ist hier, keiner kann mir zu Hilfe eilen. Ich muss schneller laufen, ihn einholen, ihn beschützen, obwohl ich nicht weiß, wovor. Und dann plötzlich steht er vor mir, dreht sich um und jetzt schreie ich. Denn das, was ich sehe, kann nicht der Wirklichkeit entsprechen.

Ich schrecke aus diesem Alptraum auf, der mir auch Minuten nach dem Erwachen noch eine Gänsehaut verursacht. Ich wische mir mit der Hand über die Stirn und spüre den nassen Schweiß, als hätte ich Fieber. Ich atme tief ein und aus, ehe ich aus dem Bett steige und den kalten Boden berühre. Wir schlafen mit halb offenem Fenster, auch im Winter. Seither schlafe ich besser, doch das morgendliche Aufstehen wird dadurch nicht einfacher. Schnell ziehe ich mir meinen lila Bademantel mit dem süßen Teddy auf dem Rücken über und husche zur Tür hinaus. Ich will nach meinem Finn sehen, denn der Traum würde mich nicht mehr schlafen lassen, würde ich mich nicht vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Ich sehe immer noch das verängstigte Gesicht meines Sohnes vor mir. Er war schweißgebadet und starrte mich aus toten, leblosen Augen an.

Mir ist durchaus bewusst, dass es nur ein Traum war. Ich schüttle den Kopf und öffne die Tür, die ins Zimmer meines sechsjährigen Sohnes führt. Finns Nachttischlampe brennt noch, und sofort höre ich seinen Atem und eine enorme Last fällt mir von den Schultern. Ich setze mich auf die Kante seines Bettes, das sein Vater für ihn selbst gebaut hat, und streichle ihm zärtlich über seine weißen Haare. Ich liebe diesen Jungen mehr als mein eigenes Leben und würde für ihn sterben. Ich danke Gott täglich dafür, was für ein tolles Leben er mir geschenkt hat, und bin mir dessen bewusst, dass es auch anders hätte ausgehen können.


Ich beschließe, nicht mehr ins Bett zurückzugehen, sondern die Brotzeit für unseren Ausflug vorzubereiten.
Zwei Stunden später sitzen wir alle drei in unserem Auto. Ich schließe die Augen und genieße die Ruhe, die im Moment herrscht. Mein Sohn Finn schläft und mein Mann scheint in sich gekehrt zu sein, während er steuert.
Und da sind sie wieder, diese verbotenen Gedanken an einen anderen Mann, die ich nie hätte haben dürfen, die aber immer dann auftauchen, wenn ich entspannt bin. Ich gehe dann in mich, Jahre zurück in meine Vergangenheit. Ich spüre ihn dann. Wie er mich berührt. Spüre seinen Atem auf meiner Haut, rieche ihn, bin eins mit ihm. Ich weiß, dass ich diese Gedanken nicht haben darf, nicht haben sollte. Ich weiß, sie werden mich irgendwann zerstören, diese Erinnerungen an die Person, die mein Untergang sein kann.
Dann öffne ich die Augen und die Helligkeit lässt mich blinzeln. Manchmal ist es so finster hier in Norwegen, dass ich in eine tiefe Depression falle. Aber heute, so wie jetzt, wenn ich die Augen öffne und den weißen Schnee vor mir sehe, dann tut mir dieses Strahlen richtig gut. Es ist nicht so, dass ich Norwegen nicht mag. Es ist eher so, dass ich mich manchmal nach wärmenden Sonnenstrahlen, nach Meer, nach Salz auf meiner nackten Haut sehne. Aber mein Mann hasst die Wärme, den Süden, einfach alles, was nicht Norwegen ist. Anfangs hat mir diese Heimatverbundenheit gefallen, doch nach den vielen Jahren bin ich es leid, meine Urlaube nur im hier im Norden zu verbringen. Aber ich sage nichts. Ich habe nicht das Recht, mich zu beschweren. Nicht in meiner Situation, nicht nachdem, was passiert ist.
Ich muss vielmehr dankbar sein. Darüber, dass ich einen gesunden Sohn habe. Darüber, dass ich überhaupt noch ein Leben habe. Und das bin ich auch. Ich bin nicht nur dankbar, manchmal bin ich sogar glücklich. Aber nicht mehr so oft. Nicht mehr so, wie ich es eigentlich sein sollte.
Vielleicht ist es die Schuld, die auf meinen Schultern liegt, oder der Schmerz über den Verlust, den ich durch die Schuld erleiden muss. Ich habe keine Ahnung. Auch habe ich keine Wahl, denn ich muss weitermachen. Und für Finn lohnt es sich allemal, hierzubleiben. Hier zu leben. Freunde zu haben. Eine perfekte Familie darzustellen. Es lohnt sich. Für Finn.

Finn ist genauso wie sein Vater. Er hat helles, ja beinahe weißes, sehr feines Haar. Er ist groß, schlank, muskulös und liebt die Natur mehr als alles andere. Er geht mit meinem Mann Gustav auf die Jagd, in die Berge, Campen und Eisfischen. Er liebt Eishockey und hasst es, in vier Wänden eingesperrt zu sein. Selbst wenn es draußen eiskalt ist, er bleibt nicht daheim. Er muss etwas tun, das ist sein Leben. Und manchmal, auch wenn ich es nie laut aussprechen würde, ist er mir so fremd, als wäre er nicht aus meinem Körper gekommen. Er ähnelte mir noch nie. Weder von seinem Wesen noch vom Aussehen. Als er ein Baby war, hatte er schon so viel Temperament, dass ich oft überfordert war. Aber ich liebe ihn, mehr als alles andere auf der Welt.
Kurz drehe ich mich um, sehe meinen schlafenden Sohn, der mir geschenkt wurde, der mein ganzer Stolz ist, und lächele.
Wir sind auf dem Weg zum Eisfischen und ich komme ausnahmsweise mit, denn ich weiß, dass es meinen beiden Männern viel bedeutet, wenn ich sie bewundere und mich über die Fänge freue. Und das tue ich auch.
„Was ist mit dir? Du bist so still heute.“
Ich sehe zu meinem Mann und lächele, denn jetzt in diesem Moment erkenne ich, wie froh ich doch sein kann, so einen liebenswürdigen Mann gefunden zu haben.
„Was ist?“, fragt er mich und zieht seine dichten Augenbrauen nach oben. Dabei denke ich mir, wie alt er doch geworden ist.
„Es ist alles gut, Liebling. Ich freue mich, mit euch unterwegs zu sein, das ist alles.“
„Wir uns auch“, und während er das sagt, legt er seine Hand auf meinen Oberschenkel und ich spüre, dass ich ihn liebe.

Wir machen eine kleine Pause auf einem Rastplatz, der etwa auf halbem Weg unserer kleinen Reise liegt. Eine Stunde sind wir unterwegs, und wir brauchen eine kleine Stärkung. Finn springt aus dem Auto und sieht sich um. Ich beobachte ihn. Seinen Drang, sich zu bewegen. Wüsste er nicht, dass am Ende der Fahrt das Eisfischen auf ihn wartet, würde er quengeln. Das ruhige Sitzen im Auto nervt ihn, aber im Laufe der Jahre hat er endlich verstanden, dass die ganze Nörgelei doch nichts bringt. Ich umarme ihn und er drückt mich weg. So ist es immer.
„Mom. Ich bin kein Baby mehr“, sagt er und schüttelt dabei den Kopf, als wäre es unerhört, was ich getan habe.
„Ich geh mal zur Toilette“, sagt mein Mann.
„Ich komme mit, Daddy“, und schon sind meine Männer verschwunden. Ich sehe sie noch um das kleine Gebäude gehen.

Ich betrete die kleine Tankstelle und werde freundlich von einer jungen Dame begrüßt, während ich auf die Zeitungen zusteuere. Ich brauche irgendetwas zu lesen, denn das Fischen wird für mich lange und ermüdend werden. Ich sehe mir einige Zeitungen durch, auch wenn ich mich mit Norwegisch immer noch etwas schwertue. Das meiste kann ich mir zusammenreimen. Ich schnappe mir eine Klatschzeitung und dann fällt mir das Datum auf und ich erstarre. Ich presse die Augen zusammen, will dieses Datum nicht sehen, will diesen Tag aus meinem Leben verbannen. Ich habe doch ganz vergessen, dass es heute war. Die letzten Jahre habe ich mich schon Wochen vor diesem Datum geängstigt. In diesem Jahr habe ich es wohl vergessen, zum ersten Mal. War das nun gut oder nicht? Ich weiß es nicht. Schnell lege ich die Zeitung zurück und stürze aus dem Laden. Ich brauche frische Luft, denn die Bilder, die sich nun erneut vor meinem Kopf abspielen, lassen mich kreidebleich werden. Wie kann ich diesen Tag vergessen? Was bin ich nur für ein Mensch?
Und Gustav, wieso hat er nichts gesagt? Wieso ist er nicht dort? Wieso heute dieser Ausflug? Ich verstehe plötzlich nichts mehr.
Ich atme die eiskalte, frische Luft ein, sauge sie in meine Lungen auf und bemerke, dass ich zittere. Ich sehe mich um, doch niemand ist da. Ich muss mich setzen, aber nicht hier. Ich eile ins Auto und versuche durchzuatmen. Ich schließe erneut die Augen, atme ein und aus. So wie man es tut, um sich zu beruhigen. Man atmet einfach weiter. Egal was passiert, man atmet weiter.
Als ich die Augen öffne, sehe ich meinen Mann und meinen Sohn, sie kommen aus dem Laden. Sie haben sich etwas gekauft. Finn hält Schokolade in der Hand und mein Mann hat einen Kaffee, der noch dampft in der Kälte. Ich reiße mich zusammen. Heute Abend werde ich Gustav darauf ansprechen. Nicht jetzt. Nicht vor Finn.

Ich fühle mich die restliche Fahrt über beklommen und meinem Mann so fremd. Er hat mit keiner Silbe erwähnt, was heute für ein Tag ist. Hat er vielleicht erwartet, dass ich etwas sage? Ist er nun enttäuscht? Ich hätte diesen Tag nicht vergessen dürfen, verdammt.
Aber Gustav scheint nicht bedrückt, sondern gut gelaunt zu sein. Er scheint sich auf den Tag zu freuen und Finn redet die ganze Zeit vor sich hin.

Die Bilder sind so real, als wäre es erst gestern gewesen. Auch wenn ich versuche, die grausamen Bilder zu verbannen, sie kommen immer wieder. Erst als wir aussteigen und ich die vielen Menschen sehe, den See, die Angler, die Hunde und die Geräusche höre, werde ich wieder ruhiger. Der Lärm lenkt ab. Er lässt einen für einen kurzen Moment die eigene Stille im Körper vergessen. Die Angst, gelähmt zu sein, vergeht und ich lenke mich ab. Ich spreche mit den Frauen, die mitgekommen sind, denn Gustav und Finn sind nicht mehr zu sehen. Und das wird sich vermutlich den Tag über nicht ändern, denn sie haben zu tun. Wieso auch nicht? Sie dürfen glücklich sein, denn sie tragen keine Schuld in sich. Und werden vermutlich auch nie welche in sich tragen, denn sie sind gute Menschen. Anders als ich.


Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, denn das Eisfischen läuft für die Angler prima. Ich freue mich, denn das Strahlen meines Sohnes lässt mich diesen Tag überstehen. Und morgen würde die Welt doch wieder etwas besser aussehen. Das hoffe ich zumindest.
Es ist schon wieder dunkel, obwohl es erst später Nachmittag ist. Über all die Jahre habe ich mich an diese Düsternis nicht gewöhnt. Finn und Gustav macht das nichts aus, aber mir. Ich hasse die Dunkelheit.
Am Nachmittag kommen die Angler langsam alle vom See zurück. Sie sehen glücklich aus. Auch Gustav ist unter ihnen. Ich winke ihm zu und halte nach Finn Ausschau, kann ihn aber noch nicht sehen.
„Wo ist Finn?“, fragt mich Gustav, nachdem er mir seinen Fang präsentiert hat.
„Wieso fragst du, er war doch bei dir?“, frage ich überrascht.
„Nein, er ist schon vor einer halben Stunde zurück. Er sagte, er wolle zu dir, weil ihm kalt ist.“
„Was? Nein, er ist hier nicht aufgetaucht. Ich war die ganze Zeit über hier drin. Ich hätte ihn doch gesehen.“ Ich bin zwar erstaunt, aber noch nicht unruhig. Finn lässt sich leicht ablenken und von Dingen begeistern.
„Er ist sicher noch draußen. Ich sehe nach.“
„Ich komme mit“, schnell schnappe ich mir meine Jacke und folge meinem Mann. Es sind noch viele andere Fischer und Kinder unterwegs. Doch ich sehe Finn nicht.
„Finn! Finn, wo steckst du?“, höre ich meinen Mann rufen und ich bemerke sofort seine Angst in der Stimme. Aber so ist Gustav. Immer gleich in Sorge. Es dauerte Jahre, bis er Finn endlich mal etwas allein unternehmen lies. Er hat immer fürchterliche Angst um ihn. Doch in letzter Zeit scheint er mehr Vertrauen zu entwickeln.
Wir suchen überall. Fragen die Leute, doch auch zehn Minuten später ist Finn immer noch verschwunden. Die Menschen steuern auf ihre Autos zu, fahren nach Hause, und das sollten wir auch tun. Wir rennen nun, schreien, rufen nach ihm. Doch er bleibt auch dreißig Minuten später unauffindbar. Andere helfen uns, suchen alles ab. Gehen erneut aufs Eis. Kehren aber ohne Finn zurück. Fünfundvierzig Minuten später fährt der erste Polizeiwagen vor, und ich höre auf zu atmen.

Noch mal eine halbe Stunde später kommen eine junge Frau und ein großer, schlanker Mann auf uns zu. Sie stellen sich vor, ich merke mir nur ihre Vornamen, Tommy und Inga. Sie sind keine normalen Polizisten, tragen keine Uniform und das macht mir noch mehr Angst. Inga nennt mich auch beim Vornamen, sie will Vertrauen aufbauen, das merke ich sofort. Doch ich will das nicht. Ich will, dass Finn wieder vor mir steht.
„Haben Sie ein Foto ihres Jungen bei sich?“, fragt mich Inga und ich krame nach meinem Handy. Ich zeige ihr die Aufnahmen vom gestrigen Tag. Er lacht in die Kamera und wirkt so glücklich. Inga sieht sich meinen Finn genau an, sie prägt ihn sich ein.
„Welche Kleidung trägt Finn im Moment?“ Ich muss nicht überlegen, denn er trägt seine Fischerkleidung, die ich Inga genau beschreibe.
„Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“
„Als er mit meinem Mann auf den See hinausging. Mit den ganzen anderen Eltern und ihren Kindern.
Inga nickt und ich habe Angst.
Ich höre hinter mir den anderen Polizisten sprechen. Er redet über das Eis, über den See. Ich ahne, was er meint, und mein Herz zieht sich zusammen.

 „Der See wird von unseren Leuten abgesucht. Es wird nach Stellen gesucht, in denen er ins Wasser hätte fallen können, doch das ist unwahrscheinlich. Das Eis ist meterdick, die Löcher zum Angeln sind winzig, kein Kinderkörper passt da durch.“
 Ich will nicht, dass sie so sprechen, ich will das alles nicht hören. Er ist nicht ertrunken, er ist zwar erst sechs Jahre alt, aber er kennt sich aus. Weiß, was gefährlich ist und was nicht. Er kennt die Natur besser als die Stadt. Er würde nicht ertrinken. Nein, niemals. Aber wo ist er dann?

Nun geht alles schnell. Tommy und Inga lassen niemanden mehr gehen. Der Parkplatz ist abgesperrt. Jedes Auto wird gecheckt, mit jedem wird gesprochen. Aber es sind doch schon so viele Leute weg, er könnte in einem der Autos gewesen sein. Meine Gedanken kreisen nur noch um mein Kind. Alles andere ist ausgeblendet. Ich höre nicht mehr richtig hin, will einfach nur weg. Nach Hause, auf mein Sofa. Den Sonntagabend genießen. Fernsehen und kuscheln, mit Finn. Jetzt fängt es auch noch an zu schneien, die Temperatur sinkt. Wenn er sich irgendwo verletzt oder sich verlaufen hat, dann würde er erfrieren.
Ich sehe mich um, kann meinen Mann nicht finden. Die Menschen starren mich mitleidig an, die Frauen versuchen, mich zu trösten. Ich sehe über den See hinaus, dann drehe ich mich um, sehe den Wald vor mir und hinter mir liegt die Straße. Wo bist du Finn?

Es ist nun stockdunkel, die Scheinwerfer leuchten, die Menschen werden immer weniger, denn sie dürfen fahren, sobald ihr Wagen durchsucht und ihre Personalien aufgenommen wurden. Es ist alles ein reines Durcheinander für mich, doch Tommy und Inga scheinen alles unter Kontrolle zu haben. Obwohl es eiskalt ist und ein Sturm aufzieht, machen sich Einsatzkräfte auf den Weg in den Wald. Ich merke es Tommy und Inga an, sie wollen ihn finden, doch sie scheinen selber Angst zu haben, dass dieser Sonntag ein Todessonntag wird.
Ich kenne den Schmerz des Verlustes, aber nichts hat mich auf diesen Moment vorbereitet. Niemand hätte mir sagen können, wie es sich anfühlt, denn dieses Gefühl kann man niemandem erklären. Es ist wie Fallen, aber ohne Aufschlag. Wie ein Schock, der nie vergeht. Es ist, als wenn das Herz stehen bleibt, doch der Körper weiterwandert.

Gustav hat sich dem Suchtrupp angeschlossen, ich hätte auch nichts anderes erwartet. Auch ich wollte mit, aber mir wurde die Aufgabe zugeteilt, hier zu warten. Für den Fall, dass Finn wieder auftauchen würde. Eine Psychologin sitzt neben mir, sagt aber, genauso wie ich, kein Wort. Wahrscheinlich würde ihre Arbeit erst so richtig beginnen, wenn er tot gefunden wurde oder wenn er verschwunden blieb. Es ist noch zu früh, um aufzugeben, das weiß ich. Aber mein Herz sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Etwas ist ganz und gar nicht mehr heil. Und das ist mein Leben von nun an. Erneut.

Gustav

Gustav sieht, wie die Polizisten alles absperren, wegen Finn. Er schüttelt immer wieder den Kopf, kann nicht glauben, dass seiner Familie das passiert. Gustav ist sich sicher, dass Finn sich nicht verlaufen hat, denn der Junge ist artig, hört auf ihn, weiß, wie gefährlich es nachts allein in der Natur, in den Wäldern ist.
Was Gustav allerdings nicht sieht, ist die Familie, die gerade schimpfend in ihr Auto steigt. Er hört nicht, was der Junge zu seinem Vater sagt. Er sieht nicht, wie verschwitzt der ihm fremde Junge ist, welche Panik in seinen Augen steht.
„Aber Papa, ich muss dir etwas sagen“, stottert der Junge, der ein blaues Auge trägt, das er seinem betrunkenen Vater zu verdanken hat.
Er wollte es ihm sagen, doch niemand hörte ihm zu, wie immer.
„Steig ein. Wo hast du so lange gesteckt, verdammt?“, flüstert der Vater, der nach Whisky stinkt, dem Jungen ins Ohr und packt ihn beim Genick.“
„Aber Papa, bitte. Ich ...“, aber der Vater lässt ihn nicht ausreden. Er schubst den Jungen in den Wagen, in dem bereits die verängstige Schwester und die Mutter warten. Dann lässt der Mann den Motor an und entkommt gerade noch der Absperrung, die die Polizisten nun errichten. Der Junge sieht vom Rücksitz aus durch die vereiste Glasscheibe, hinauf in die Wälder. Eine Träne rinnt ihm über das Gesicht, dann flüstert er zu sich selber:

„Es tut mir leid, Finn.“

Gustav, der von diesem Gespräch nichts mitbekommen hat, macht sich auf den Weg in den Wald, der direkt an den See grenzt. Er begleitet die Einsatzkräfte, in der Hoffnung, Finn zu finden. Er muss ihn finden, es kann nicht anders kommen. Es darf nicht so kommen wie damals vor genau sieben Jahren, als er alles verloren hatte, was ihm geblieben war. Und dann kam Finn, der Rettungsanker, denn nach allem, was ihm im Leben schon widerfahren war, fühlte sich Finn wie ein Engel an. Ein Engel, der ihn rettete.
Er wusste immer, dass dies ein schwarzer Tag war, doch er hätte nicht im Traum daran gedacht, erneut diesen Schmerz zu empfinden, und sogar noch schlimmer. Es gab also eine Steigerung der Angst, der Panik, denn er fühlte sie. Er würde es kein drittes Mal überstehen. Er hört nichts mehr. Nicht mehr die Geräusche des Waldes, nicht mehr die Stimmen der Einsatzkräfte und freiwilligen Helfer. Er ist wieder in der Vergangenheit an diesem gottverdammten Tag vor sieben Jahren.