Mimi & Maria
Mimi und Maria sahen sich seit
fünf Monaten zum ersten Mal wieder. Seit sie beide an verschiedenen
Universitäten studierten, sahen sie sich immer seltener. Das Ereignis, das sie
wieder einmal zusammenbrachte, war der Geburtstag ihrer Mutter. Sie waren
eineiige Zwillinge und sahen komplett identisch aus, doch charakterlich hätten
sie nicht unterschiedlicher sein können. Als sie Kinder waren, teilten sie
alles. Sie waren wie Pech und Schwefel. Nur den Tod ihrer älteren Schwester
verarbeiteten sie auf unterschiedliche Weise und verloren sich dabei. Maria war
die selbstbewusste, kluge Musterschülerin, während Mimi rebellierte. Sie ließ
sich mehrfach tätowieren und trug einen Ring in der Nase. Sie wollte sich von
ihrer Zwillingsschwester abgrenzen. Sie war ebenso klug, doch die schulischen
Leistungen litten. Erst nach dem Abitur, als sich die Wege der Zwillinge
trennten, konnte Mimi wieder frei atmen. Maria bestimmte nicht mehr über ihr
Leben. Sie saßen auf der Terrasse und nippten beide an einem Glas Sekt.
„Und wie geht’s deinem Freund?“,
brach Maria das Schweigen.
„Gut.“
„Warum ist er nicht mitgekommen?“
Maria hob überheblich die
Augenbrauen.
„Ich denke nicht, dass er dabei
sein muss.“
Mimi ließ sich nicht provozieren.
Sie lächelte ihre Schwester siegessicher an. Maria hatte keinen Freund. Mimi
wusste nicht, ob sie überhaupt schon einmal einen hatte. Es war ihr auch egal.
Morgen flog sie wieder zurück nach London. Dort konnte sie wieder atmen. Nur
noch einen Tag.
Ihre Mutter kam mit belegten
Brötchen zurück und setzte sich auch in einen Liegestuhl. Sie wirkte gestresst.
Ihre Haut sah blass aus und sie war nur wenig geschminkt. Das war untypisch für
die sonst so gepflegte Frau.
„Er ist frei.“
Karla sagte es so beiläufig, dass
die Mädchen zuerst nicht verstanden.
„Was?“, fragte Mimi.
„Der Mörder eurer Schwester ist
wieder auf freiem Fuß. Er lebt in Berlin.“
Das erste Mal sahen sich die
beiden Schwestern in die Augen. Sie dachten dasselbe. Angst umklammerte ihre
beiden Herzen.
„Seit wann?“, fragte Maria. Sie
wirkte aufgerüttelt, nervös.
„Seit ein paar Wochen. Ich kann
nicht mehr schlafen. Ich werde verrückt, wenn ich an diesen Bastard denke.“
Karla zitterte am ganzen Leib,
doch keine der beiden Töchter umarmte sie. Zu groß war der Graben zwischen
ihnen.
„Mutter, du musst dir Hilfe holen.
Du kommst mit dem Tod von Maja einfach nicht zurecht.“
„Ach, was weißt du schon. Ich habe
ein Kind verloren. Er hat es getötet.“
Maria verstummte, denn auch ihr
Leben war seitdem nicht mehr dasselbe. Ihre Kindheit hatte einen tiefen Riss
bekommen. Seit diesem einen verdammten Sommerabend.
Alle drei
blieben stumm und versanken in eigenen Gedanken. Maria und Mimi wussten beide,
was die jeweils andere über den Mord dachte. Sie sprachen aber niemals darüber,
das hatten sie sich geschworen.
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