Sie starrten beide reglos auf den See,
der ruhig im Dämmerlicht vor ihnen lag. Beiden hatte es die Sprache
verschlagen, der Schock saß noch tief. Bei ihm unendlich tiefer als bei ihr.
Denn sie hatte es darauf angelegt. Doch auch sie war geschockt, war nervös. Wie
würde er sich verhalten? Sie wartete - auf ein Zeichen, zumindest auf Wut, doch
er blieb stumm. Vorsichtig näherte sich ihre Hand der seinen. Er zuckte nicht
zurück, im Gegenteil. Er drückte sie fester. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Er liebte sie. Er würde sie immer lieben. So blieben sie sitzen bis die Nacht
über ihnen hereinbrach. Kein Wort brachte er über die Lippen. Doch er wusste,
er musste handeln. Er musste zu dem, was er angerichtet hatte, stehen. Er hatte
keine Wahl. Er starrte immer noch auf den See. auf seinen geliebten See. Wie
viele schöne Momente hatte er hier erlebt. Mit seiner Familie, seinen Freunden
- mit sich alleine. Und mit Anna. Hier hatte er sich mit Anna geliebt - das
erste Mal. Hier hatte er das erste Mal richtigen Sex. Er war oft hier, im
Sommer jeden Tag. Er liebte den See, der so beschützend vor ihm lag. Er kannte
die Wälder rundum wie seine Westentasche. Hier hatten sie als Kinder Räuber und
Gendarm gespielt und er später von seinem Vater das Jagen erlernt. Der Mond
stand hoch über ihnen und spendete romantisches Licht. Doch ihm war nicht nach
Romantik zumute. Er war der Mann, er musste nun eine Entscheidung treffen. Seit
Tagen konnte er nicht mehr essen, nicht mehr schlafen. Obwohl er wusste, dass
so etwas passieren konnte, war er sprachlos, als sie es ihm mitteilte. Er
verlor den Boden unter den Füßen. Seitdem sah er sich fallen, immer tiefer
fallen. Ein Höllenfeuer würde auf ihn warten. Es würde ihn verschlingen. Sein
Leib würde brennen, brennen, brennen. Sie zuckte zusammen, als er plötzlich seine Stimme
erhob, leise, sehr leise, doch laut genug, um sie zu erschrecken, ihr Angst zu
machen. Es lag etwas in seiner Stimme, das sie fürchtete. Sie kannte die Worte
und die Sätze, die er leise formte. Ihre Stimme war brüchig, als sie es ihm
gleichtat. Auch sie suchte Vergebung.
…dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auf wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
Und immer
wieder wiederholten sie es. Bis sie nicht mehr konnten. Bis sie hofften,
endlich eine Lösung zu finden. Doch vor dem Horror, der folgen würde, gab es
kein Entrinnen. Er ahnte es – sie wusste es.
Vorwort
Melanie von Graf war eine der Nachfahren der bekannten Familie von
Graf, die in den späten fünfziger Jahren durch mehrere Hotels zu einem
ansehnlichen Vermögen kam. Melanies Großvater Johann war der Gründer einer
bekannten Hotelkette in Europa. Mit mehr als hundert Hotels und verschiedenen
Restaurants hatte er sich großes Ansehen und ein beachtliches Vermögen
erworben. Anfangs war er auch politisch sehr engagiert, doch mit den Jahren
wurde er immer ruhiger. Ende der siebziger Jahre zog er sich komplett aus dem
Unternehmen zurück und überließ die Führung seinen Söhnen - Frank, Martin und
Ludwig. Großvater Johann lebte dann mit seiner Frau Erna auf dem
Familienanwesen in Bayern und hielt sich aus den Geschäften seiner Kinder fast
komplett heraus. Auf dem Familienanwesen standen ebenfalls die Villen der Söhne
und ein kleines Häuschen, das für zwei enge Freunde - die gleichzeitig
Hausmeister und Gärtner waren - zur Verfügung stand. Johann von Graf starb 1985
nach einem längeren Krebsleiden und
hinterließ sein gesamtes Vermögen sowie die Geschäfte seinen drei Söhnen.
Martin von Graf war Melanies Vater. Er galt als resolut,
selbstbewusst und war beim Personal gefürchtet. Den Aussagen ehemaliger
Angestellter zufolge war er durchaus aggressiv und behandelte seine Frau und
die Kinder von oben herab. Er war auch schon mehrfach auffällig geworden und verschiedene
Medien berichteten von Alkohol- und Glücksspielexzessen. Martin von Graf war
auch der Vater von Melanies um ein Jahr älteren Bruders Michael und ihrer
jüngeren Schwester Sofia.
Frank von Graf war der zweitälteste Sohn. Er wurde als ruhig und bedacht
beschrieben. Er kümmerte sich um die Buchführung und die Zahlen im Unternehmen.
Da aber alle Söhne kein großes Interesse an der Firma und an den Hotels hatten,
stellten sie bald für jede erdenkliche Arbeit Manager ein. Frank von Graf hatte
zwei Kinder, Thomas war der älteste Sohn und war um ein Jahr älter als Melanies
Bruder Michael. Elisabeth war genauso alt wie Melanie. Franks Frau war bei
einem Autounfall ums Leben gekommen.
Der jüngste Sohn hieß Ludwig von Graf, er hatte eine Tochter
Marlene und einen behinderten Sohn Sebastian. Ludwigs Frau Andrea kümmerte sich
liebevoll um den behinderten Sohn. Über Ludwig von Graf war sehr wenig bekannt.
Er lebte zurückgezogener als seine Brüder.
Am 12. September 2003 starben durch den Amoklauf
von Melanie von Graf neun Menschen. Darunter Frank, Martin und Ludwig von Graf,
also die drei Brüder und zugleich Melanies Onkel. Melanies Mutter Lucia und
Ludwigs Frau Andrea wurden ebenfalls getötet. Außerdem starben Melanies Bruder
Michael und Ihr Cousin Thomas. Anton und Klaus – Hausmeister und Gärtner der
Familie, wurden ebenfalls durch Schüsse
getötet. Sie waren beide ledig und führten gemeinsam einen Haushalt. Es waren
also sieben Menschen der Familie Graf und zwei Freunde der Familie durch die
Schüsse von Melanie getötet worden. Vor Gericht verweigerte sie jede Stellungnahme und bekannte
sich für schuldig. Das hieß – 15 Jahre
Haft wegen mehrfachen Mordes. Zum
Zeitpunkt der Tat war sie 21 Jahre alt und laut Gericht voll schuldfähig. So
wurde sie dann auch nach dem
Erwachsenenstrafrecht verurteilt. Den Anschlag überlebt haben Sofia und
die Cousinen Elisabeth, Marlene und der behinderte Sohn Sebastian. Elisabeth
war damals bereits achtzehn Jahre alt und verlies Bayern und das Anwesen der
Familie von Graf. Sie fing irgendwo ein neues Leben an und änderte ihre
Identität. Melanie hörte nie wieder etwas von ihr. Marlene war sechzehn Jahre
alt und lebte die nächsten zwei Jahre bis zu Ihrem achtzehnten Lebensjahr bei
Erna, der Großmutter. Auch Sofia und Ludwig kamen zu Erna. Sie lebten weiterhin
auf dem Anwesen der Familie von Graf, doch in keiner der Villen, sondern in dem
kleinen Anwesen der Angestellten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen