Montag, 6. Februar 2012

Leseprobe "Kein Weg zurück" - Kurzgeschichten

Am Ende bleiben nur Janis und ich…

Es ist Heiligabend und meine Mutter trägt ihr hellblaues Nachthemd, das so schön flauschig ist. Wir sitzen vor unserem kläglichen Weihnachtsbaum, der nicht einmal einen Meter hoch ist, aber dennoch wundervoll funkelt. Ich sehe die bunten Kugeln vor mir und die Flammen der Kerzen, die das Zimmer in ein warmes Licht tauchen. Meine Mutter lächelt mich an. Sie hat das schönste Lächeln der Welt!
„Mein Spatz, hören wir ein wenig Musik?“
Ich nicke ihr nur zu und frage mich, warum sie wohl so glücklich ist, wenn sie Musik hört. Ich bin zwar noch klein, aber ich weiß, dass sie die Musik braucht, um ihr Leben zu ertragen. Ich beobachte sie, wie sie die Schallplatte auflegt und freue mich, weil sie sich so sehr freut. Und dann höre ich die Gitarrenklänge und Janis Joplin erfüllt den Raum.

Oh come on, come on, come on, come on
Didn´t I make you feel like you were the only man oh yea
And didn´t I give you nearly everything a woman possibly can
Honey you know I did…

Ich höre die Stimme von Janis Joplin, als wäre sie real, als säße sie in unserem Wohnzimmer. „Komm her mein Schatz.“
Ich liebe unser Ritual, das wir seit Jahren vollziehen. Seit ich denken kann, waren meine Mutter und ich allein. Ich und sie und sie und ich. Wir waren ein Team. Sie sitzt im Schneidersitz da und wartet, bis ich mich in ihre Kuhle vor ihren Bauch kuschele und wir zusammen die Songs von Janis hören. Mama liebt Janis und deshalb liebe ich sie auch, obwohl ich eigentlich mehr auf die Songs von den Beatles stehe, aber Mama wird dabei  immer so traurig, deshalb suche ich immer Janis aus, dann ist sie glücklich.
„Mama, was bin ich alles für dich?“
Meine Mama hat mir mal gesagt, dass ich ihr süßer Fratz bin und da habe ich sie gefragt, wie süß ich denn bin. Und seitdem frage ich sie immer wieder, weil ich es so mag, wenn sie mir antwortet und tausend Spitznamen gibt.
„Du bist mein Schaflämmchen, mein Delphinbaby, mein Wellensittich, mein kleiner Cowboy, mein Vögelchen, mein Kätzchen und mein kleines Stinktier.“
„Mama, ich bin doch kein Stinktier.“
Dann fangen wir beide an zu lachen und hören wieder der Musik zu.

I want you to come on, come on, come on and take it,
Take another little piece of my heat now, baby, (break a…)
Break another little bit of my heart now, darling, yeah. (have a…)
Hey! Have another little piece of my heart now, baby, yeah.
You know you got it if it makes you feel good.
Oh yes indeed.

Ich schlafe in den Armen meiner Mama ein und sie trägt mich dann in unser Bett. Wir schlafen auf einer Klappcouch, beide zusammen, denn wir haben nur ein Zimmer, eine Küche und ein kleines Bad.

You´re out on the streets looking good, and baby,
Deep down in your heart I guess you know that it ain´t right,
Never, never, never, never, never, never, never hear me when I cry at night,
Baby, I cry all the time!
And each time I tell myself that I, well I can´t stand the pain,
But when you hold me in your arms, I´ll sing it once again.

Dann wache ich auf, denn der Trip ist vorbei, der mich in die Vergangenheit katapultierte, die doch so schmerzhaft ist. Ich wische mir den Sabber vom Mund, ziehe mir die Spritze aus dem Arm, die ich vergessen hatte und da ist es wieder weg – das Bild meiner Mutter. Ich brauche neuen Stoff, sonst werde ich diesen verdammten Tag nicht überstehen. Neben mir liegt Amelie - Amelie, die ich in den Dreck gezogen habe. Sie ist weggetreten, ihr Trip wirkt noch, sie braucht noch nicht so viel wie ich – das ist gut, gut für sie. Ich stehe auf, gehe zur Spüle, trinke ein Glas Wasser und schlucke eine Pille, die mich wieder ein wenig auf Trab bringen soll.

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