Leseprobe zu "Mädchenlügen"
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Die Ermittlungen
Tamara Pech
Sie kämmte sich ihre langen schwarzen Haare und band sie sich zu einem strengen Dutt. So wie fast jeden Tag. Auf dem Badezimmerschrank lag ihr Notizbuch. Sie schrieb gerne per Hand, auch wenn sie ihr Kollege Thomas Petri deswegen ständig aufzog. Er notierte alles auf einem Tablet. Das fand sie total affig. Aber sie mochte ihn, er war ein enger Freund.
Nachdenklich betrachtete sie ihr Spiegelbild und blickte in müde Augen. In letzter Zeit wirkte ihre Haut faltig und aschfahl. Der Fall um den Wiesn-Vergewaltiger setzte ihr erheblich zu. Sie kannte den Grund genau, doch sie schwieg darüber, wollte dieses Geheimnis weiter unter Verschluss halten. Niemand wusste davon. Kein einziger Mensch. Nur sie selbst.
„Wiesn-Vergewaltiger“ passte streng genommen nicht, da nur eine Vergewaltigung direkt nach der Wiesn passiert war. Alle anderen Vergewaltigungen hatten in den Monaten danach stattgefunden. Im Winter war es ruhiger gewesen. Inzwischen gab vier Opfer, alle hatten überlebt. Mehr schlecht als recht. Eine saß im Rollstuhl und eine andere war seit der Tat in einer psychiatrischen Klinik. Alle vier Opfer trugen heftige Male von den Überfällen am Körper. Sie waren verstümmelt, verbrannt, vergewaltigt, aufgeschlitzt worden. Doch alle hatten überlebt.
Der Frühling setzte sich langsam durch, die Sonne strahlte heute vom Himmel, doch in Tamara war es leer. Innerlich zerfressen stürzte sie sich von einem in den anderen Fall. Privatleben kannte sie nicht. Sie war bis ins Landeskriminalamt aufgestiegen. Dort wollte sie bleiben, sich beweisen. Doch dieser Fall setzte ihr mehr denn je zu. Morde, ja. Aber die verstümmelten Mädchen zu sehen, führten bei ihr zu einem Flashback. Darüber durfte sie nicht nachdenken, sich nicht ablenken lassen. Sie hörte die Hupe von Thomas. Schon wieder war sie zu spät dran und eilte zur Tür.
„Wir haben einen Mord“, begrüßte sie der lächelnde Kollege.
„Und da lächelst du?“
„Du kennst mich doch“, murmelte er vor sich hin.
„Sag schon!“, forderte sie ihn auf, mehr zu erzählen.
„Diesmal hat sie es nicht geschafft. Wieder ein Mädchen, wieder im Müll. Diesmal tot.“
„Nein! Scheiße noch mal. Verflucht noch mal“, machte sie ihrer Wut Luft und schlug mit der Faust gegen die Scheibe.
„Das kann doch nicht wahr sein!“ Sie war außer sich. Machte sich dafür verantwortlich, da keiner vorankam. Die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Polizeiinspektionen war mühsam. Doch auch das LKA kam kein Stück weiter. Sie fühlte sich schuldig.
Der Tatort lag im Hinterhof einer stillgelegten Disco. Nur durch Zufall war die Leiche so schnell gefunden worden. Der Ablageort unterschied sich diesmal, schoss es Tamara sofort durch den Kopf. Alle anderen Mülltonnen hatten an belebten Plätzen gestanden. Der Täter wollte, dass die Mädchen gefunden wurden. Aber diesmal war es anders. Wieso?
War er zu Mord übergegangen? Hatten ihm die Verstümmelungen nicht mehr ausgereicht?
Tamara und Thomas zogen sich weiße Einweg-Overalls an, um den Tatort nicht zu verunreinigen, und sahen in den Müllcontainer. Darin lag sie. Das Mädchen, dessen Gesicht man nicht mehr erkannte. Der Hals war aufgeschlitzt, die Augen hinter dicken blauen Schwellungen verborgen. Die Haare blutverschmiert, aber das Schwarz war noch erkennbar. Tamara musste schlucken, sich konzentrieren, um sich nicht zu übergeben.
Dort, wo die Brustwarzen sein sollten, befanden sich dicke Krusten, auch diesem Opfer waren die Brustwarzen entfernt worden. Abgebissen, abgerissen, abgeschnitten. Das war im Moment nicht festzustellen.
Auf den ersten Blick erkannte Tamara viele Ähnlichkeiten zu den anderen verstümmelten Vergewaltigungsopfern. Und doch beschlich sie das Gefühl, dass hier etwas anders war.
„Findest du nicht, dass dieser Ort so gar nicht zu den anderen Tatorten passt?“, fragte Thomas.
„Ja, das stimmt. Warum ist er auf Mord umgestiegen? War das geplant? Vielleicht lässt er sie hier sterben und will das Risiko nicht eingehen, dass sie jemand zu früh findet.“
„Mhhh, könnte sein. Doch wieso jetzt und wo richtet er die Mädchen nur so zu?“
„Vergewaltigung und Folter allein reichen ihm nicht mehr. Er braucht einen größeren Kick“, mutmaßte Tamara und war doch nicht überzeugt. Irgendetwas irritierte sie hier. Sie dachte wieder darüber nach, wo er die Mädchen so zurichten konnte. Er brauchte Räumlichkeiten und ein Fahrzeug. Er war geschickt. Aber dieser Ort hier passte nicht ins Bild.
Die Spurensicherung machte ihre Arbeit und Thomas und Tamara fuhren zurück ins LKA. Als nächsten Schritt mussten sie die Identität des Mädchens klären. Sie war nackt, hatte keine Papiere bei sich gehabt. Das war zumindest bei den anderen Opfern auch so gewesen. Es musste sich um denselben Täter handeln. Er war zum Mörder geworden. Er steigerte sich. Die Fahrt dauerte ewig, der Verkehr war im Moment ein Graus. Überall Baustellen. Sie hasste München. Sie verabscheute diese Stadt so sehr und doch wollte sie nie wieder weg.
Das Kaff, aus dem sie kam, war ihr noch viel mehr zuwider. Sofort nach dem Abi war sie abgehauen. Hatte ihr Leben verändert, war auf die Polizeiakademie gegangen. Dort hatte sich alles gefügt. Plötzlich hatte sie eine Aufgabe gehabt.
Zurück in ihrem Büro im LKA-München genehmigte sie sich einen Espresso. Die Lage war angespannt, alle Kollegen taten ihr bestes und doch war es nicht gut genug. Sie hatten nun ein Mordopfer. Das hätte verhindert werden können. Wenn sie nur schneller gewesen wären.
Thomas ging die Vermisstendateien durch. Das Mädchen war vermutlich minderjährig. Ihr Fehlen musste aufgefallen sein.
Tamara trank ihren Espresso und starrte auf die Wand mit den Vergewaltigungsopfern.
Vier bildhübsche Frauen. Alles Gymnasiastinnen. Klug und ehrgeizig. Das hatten sie gemeinsam.
Sie begutachtete noch mal die Landkarte. Die vier Opfer kamen alle aus Bayern. Ein Mädchen aus München Stadt, eins aus Passau in Niederbayern, eins aus Regensburg und eins aus Deggendorf. Vier völlig unterschiedliche Orte. Weshalb die Fälle auch an das Landeskriminalamt abgegeben worden waren. Unruhig sah sie auf die Uhr, denn sie warteten auf den toxikologischen Bericht. Allen voran auf die entscheidende Frage.
Hatte auch das Mordopfer eine Murmel im Magen?
Alle vier Mädchen hatten eine Murmel im Kot gefunden. Vermutlich nur durch Zufall war die erste Murmel entdeckt worden. Bei den drei weiteren Opfern wurde dann gezielt danach gefragt und auch bei ihnen war eine gläserne Murmel im Kot gefunden worden. Niemand außer die Opfer und das LKA wussten davon. Weder die Presse, noch die Eltern der Mädchen waren darüber informiert worden. Natürlich konnte man nicht sagen, ob eins der Mädchen dies ausgeplaudert hatte, doch sie waren gebeten worden, es nicht zu tun.
Wäre wieder eine Murmel im Magen, konnte man davon ausgehen, dass es sich um denselben Täter handeln musste. Wieso Tamara daran zweifelte, wusste sie selber noch nicht. Aber ihre Intuition sagte ihr, dass hier etwas nicht stimmte.
Eine Person war von Tamara darauf angesetzt worden, herauszufinden ob es noch andere Fälle mit Murmeln gab oder was Murmeln für eine Bedeutung hatten. Bisher aber keine brauchbaren Ergebnisse.
Die Stunden vergingen, sie musste bald zur Pressekonferenz, das wurde erwartet. Von allen besorgten Bürgern, vom Mob, der gegen die Polizei wetterte. Immer, wenn es die Mitte der Gesellschaft traf, wurde dieser laut. Die Mädchen waren die Rosen der Gesellschaft. Sie waren das, worauf ein Land stolz war. Sie selbst war nie so ein Mädchen gewesen. Sie schämte sich dafür. Immer noch.
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