Donnerstag, 26. Dezember 2019

Todesblock Leseprobe

 Leseprobe zu "Todesblock"

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1985: Leichenblock

Ein grauer Novembertag in einem heruntergekommenen Wohnblock in der Nähe von Passau. Hier lebten Menschen, die keine andere Wahl hatten, Drogensüchtige, ehemalige Obdachlose, Prostituierte, Alkoholiker oder einfach Gescheiterte. In der Kleinstadt gab es keine extremen Viertel, aber doch Plätze, die man nicht als Vorzeigeobjekte sah. So wie dieser Block, der im Regen und Nebel dahinvegetierte.
Der hässliche braune Anstrich des Wohnblocks hatte auch schon mal bessere Tage gesehen. Der Gestank von Pisse und Kotze lag in der Luft. Überall blätterte der Putz von den Wänden, die Scheiben der alten Fenster waren angelaufen und Berge von Müll standen auf den Balkonen herum.
Kaputte Wäscheständer, ungeputzte Grills, Alkoholflaschen, tote Tiere lagen dort ebenfalls. Vor dem Haus, ein kleiner Spielplatz mit kaputten Geräten, hier spielte niemand gern.
An manchen Fenstern hing eine Sat-Schüssel, Fernsehgeräusche hörte man aus jeder Wohnung oder Musik. Ruhig war es hier selten. Streit an der Tagesordnung.
Acht Wohnungen gab es in dem Block, die alle voller Schimmel und Ungeziefer waren. Manche waren gepflegter als andere und doch alle baufällig. Insgesamt lebten 17 Menschen in dem Block.

Ein alleinstehender Alkoholiker, 68 Jahre alt. Seine Lieblingsbeschäftigung waren die Nachmittagssendungen im TV.
Ein älteres Paar, das früher auf der Straße gelebt hatte und jetzt seinen Lebensabend am liebsten auf dem Balkon verbrachte.
Eine WG von zwei Jungs und einem Mädel, alle waren 24 Jahre alt und drogenabhängig.
Eine alleinstehende Frau, 54, die auf die schiefe Bahn geriet, als ihr Sohn wegen Mordes ins Gefängnis musste. Sie arbeitete als Putzfrau und besuchte ihren Sohn jeden Monat.
Eine serbische Familie mit zwei Kindern, die unbedingt weg von diesem Elend wollte.
Eine alleinerziehende Frau, 44 und ihr Sohn 18, der mit Drogen dealte.
Eine alleinerziehende Zweifachmama von Kleinkindern im Alter von 3 und 5 Jahren.
Ein Ex-Häftling, der sich nur in der Wohnung aufhielt und seine Lebensmittel alle online bestellte.

Das waren die Menschen hinter dem Block. Menschen, unschuldig geboren, in eine Welt, in der sie scheiterten. Und doch lebten sie. Noch ... Zwei Tage schon war es ruhig in dem Block, keine Menschenseele in Sicht. Obwohl es nass und regnerisch war, machte sich ein Nachbar so seine Gedanken. Dieser Nachbar saß im Block gegenüber, vor seinem Fenster war ein Autospiegel angebracht, um alles genau beobachten zu können.
Tagein tagaus saß er dort und beobachtete die Menschen, die Balkone, die vorfahrenden Autos und den Streit hinter den Fenstern.
Nun aber sah er im gegenüberliegenden Block seit Tagen nichts mehr, was ihm seltsam vorkam. Die Balkontüren waren alle geschlossen, die Fenster ebenso. Die Haupteingangstür rührte sich nicht.
Es war noch nicht mal sechs Uhr abends, als er das Telefon nahm und die Wählscheibe benutzte, um die Polizei zu verständigen.
Belächelt wurde er, aber eine Streife wurde dann doch vorbeigeschickt. In seinem gammeligen Hemd, seiner alten Jogginghose und mit den fast 200 Kilo wartete er rauchend vor seinem Block.
„Hier, das ist er.“ Mit einer Hand deutete er auf den braunen Bau, der elendig und ruhig vor ihnen lag.
„Sie können wieder rein gehen, wir sehen nach und geben Ihnen dann Bescheid.“
„Meinetwegen“, antwortete er, blieb aber vor seinem Block stehen.
Die beiden Polizisten drückten zuerst auf eine der Klingeln, dann auf eine andere, letztendlich betätigten sie alle Knöpfe, das konnte der Nachbar beobachten.
Sie sahen sich verstohlen um.
Dann passierte erst mal nichts, die Beamten gingen um den Block, schauten zu den Fenstern hoch, gingen zurück zum Wagen. Sie nahmen das Funkgerät in die Hand, dann gingen sie zurück zum Haus. Gewaltsam öffneten sie die Eingangstüre und verschwanden dahinter.
Genau sieben Minuten später sah der Nachbar die beiden Beamten aus dem Haus stürmen, noch bevor die Tür sich schloss, übergab sich einer von ihnen, mitten auf dem Gehweg. Gänsehaut lief dem Nachbarn über die Haut, denn in den Gesichtern der Polizisten sah er blankes Entsetzen.

Montag, 2. September 2019

Auszug aus meinem neuen Psychothriller "Die Tramperin"

"Die Tramperin"

 Hier der Link zum Buch.


Fünf Jahre später

Sophia

Sophia Keller war dreiundzwanzig Jahre alt, trug ihre langen braunen Haare meist zu einem Pferdeschwanz und war einen Meter sechzig groß. Sie war sehr schlank, trug immer eine ausgewaschene Jeans und eine Lederjacke und machte sich, wie jeden Tag, auf den Weg zur Schnellstraße, unweit ihres Zuhauses entfernt. Sie nahm immer den gleichen Weg, genau den, den sie vor vier Jahren auch genommen hatte. Ihre Kamera, die sie sich mühsam mit ihrem Hartz-IV-Geld zusammengespart hatte, hing um ihren Hals. Auch wie jeden Tag. Die Bewohner des kleinen bayrischen Ortes, unweit von München entfernt, kannten die Tramperin, die Verrückte, die Irre, wie sie viele bezeichneten. Sie war hübsch, aber jeder wusste, sie war nicht ganz dicht. Die Menschen mieden sie, doch immer wieder nahm sie auch wer mit, aus Mitleid oder Barmherzigkeit, genau wusste man das nicht. Sophia hatte niemanden und brauchte niemanden. Sie war auf der Suche nach etwas, das sie verloren hatte. Vor fast fünf Jahren. Niemand hatte ihr damals geglaubt. Nicht die Polizei, nicht ihre Familienhelferin, nicht ihre betrunkene Mutter. Niemand. Sie war allein und würde immer allein sein, bis sie das wiederfinden würde, was sie verloren hatte. Vergessen war das bessere Wort dafür.
Es war der 26. Mai 2018, fast fünf Jahre später, als sie wieder auf der Schnellstraße entlangging, nicht mehr taumelte, wie damals. Sie hatte den Drogen abgeschworen, denn nun hatte sie eine Mission und dazu musste sie clean sein. Sie hatte es geschafft. Sie brauchte keine Familienhelferin, denn sie war nun kein Teenager mehr. Sie brauchte keine Mutter mehr, denn die hatte sich totgesoffen. Sie brauchte niemanden mehr. Nur noch diese Straße. Jeden Tag, tagein, tagaus. Der erste Akt des Tages war, in die Tankstelle zu gehen, sich eine Cola light und einen Donut zu kaufen und mit der Kassiererin zu sprechen. Es waren drei Kassierinnen beschäftigt, mit denen sie täglich sprach. Sie hatte ein Bild von der Frau angefertigt, die sie damals beraubt hatte, und es den Kassiererinnen gegeben. Sie sollten sich das Kennzeichen der Dame notieren, sollte sie in die Tankstelle kommen. Doch seit fünf Jahren passierte nichts, kein Anruf, keine Notiz für sie. Niemand nahm sie ernst, alle dachten, sie wäre eine Verrückte. Aber was wussten die schon, dachte sich Sophia. Sie kannte die Wahrheit. Nur sie allein, und irgendwann würde sie es beweisen können.
Sie trank die Cola light, aß den Donut und verabschiedete sich dann von der Kassiererin, die ihr lächelnd zunicke, als sie die Tankstelle verließ.
Die Sonne strahlte vom Himmel, als sie die Schnellstraße entlangging und jedes Auto genau beobachtete. Wenn sie dachte, es könnte die Frau von damals sein, machte sie ein Foto vom Nummernschild. Doch bisher war sie erfolglos. Unzählige Bilder hatte sie geschossen, keines führte sie zu ihrem Sohn. Einmal die Woche stapfte sie zur Polizei, mit der Bitte, sich die Nummernschilder anzusehen und ihr Bescheid zu geben, ob das Auto einer Frau Anfang vierzig gehörte. Damals war diese blond und schlank gewesen, und bestimmt hatte sie viel Geld. Sophia wusste noch, wie sie sich gedacht hatte: Oh Mann, trägt die Alte Klunker um den Hals und Ringe an den Fingern. Doch diese Beschreibung passte wohl auf Tausende von Frauen zu. Der Glaube daran, sie irgendwann zu finden, hielt sie am Leben. Das war die einzige Hoffnung, die sie noch hatte. Ansonsten müsste sie aufgeben, und das würde ihren Tod bedeuten. Ohne ihren Sohn hatte und hätte alles keinen Sinn mehr. Die letzten Jahre hatte sie sich nur mit dem Gedanken an ihn, an seinen Geruch, seine Grübchen, seine Pölsterchen an den Armen vor einem letzten Schuss, dem tödlichen Schuss bewahrt.
Doch dieser Maitag, der ungewöhnlich warm war und das, obwohl es erst kurz vor Mittag war, änderte alles. Sophia hielt einen Stock in der Hand, den sie drehte und mit dem sie Steine wegkickte. Hätte sie nicht so ein erbärmliches Leben, wäre dieser Tag ein Geschenk. Die Sonne schien, sie war umgeben von Wald und es war still. Bis auf die Autos, die ab und zu vorbeisausten. Bisher waren es nur Männer, keine einzige Frau war vorbeigekommen. Sophia schwelgte in Erinnerungen an alte Zeiten. Zeiten, die im Nachhinein gar nicht so übel waren, doch wirklich gut waren sie auch nie. Ihren Vater kannte sie nicht, die Mutter war eine Trinkerin, die ihr nie genügend Liebe geben konnte. Geborgenheit, Liebe, Verständnis, das waren die Dinge, nach denen sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte. Durch die Geburt von Adam hatte sich alles geändert und doch eigentlich kaum etwas. Sie hatte das Kiffen und das Trinken nicht aufgegeben, obwohl sie wollte. Die Versuchungen waren zu groß. Dennoch kümmerte sie sich liebevoll um Adam, das wusste sie tief in ihrem Innern. Auch wenn die Dämonen, die sie oft nachts heimsuchten, ihr etwas anderes ins Ohr flüsterten.
Sophia zuckte zusammen, ihre Erinnerungen verloren an Kraft, denn sie hörte endlich wieder einen Wagen hinter sich. Sie drehte sich um, denn der Wagen kam von der Richtung, aus der auch sie kam. Sie sah ihn schon von Weitem. Er war weiß, genauso wie der vor fünf Jahren, und ihr Herz blieb beinahe stehen, denn ein weißes Auto war selten, wie sie die Jahre feststellen musste. Es kam näher und näher, ihre Hände wurden nass, die Beklemmung nahm zu, die Angst stieg ihr in den Magen. Es war ein großer Wagen, dann blendete sie plötzlich die Sonne. Scheiße, dachte sie sich und hielt sich die Hände vor die Augen. Die Brust zog sich zusammen, ihr Körper war angespannt, als SIE an ihr vorbeifuhr: Es war eine Frau. Sophia erkannte blonde, lange Haare und blickte ihr für eine Sekunde in die Augen. Auch die Frau musterte sie und für wenige Augenblicke schien die Welt stillzustehen. Das Auto wurde sichtlich langsamer, bevor die Frau ihren Mund aufriss und Gas gab. Die Reifen quietschten und Sophia blieb geschockt und ungläubig stehen, denn diese Frau war die von damals. Das Auto zischte davon. Sophia drehte sich um, sah den Wagen von hinten und machte sofort ein Foto, so wie sie es schon unzählige Male zuvor gemacht hatte. Aber das Zittern in ihren Händen führte dazu, dass das Bild verschwommen war. Scheiße. Nervös blickte sie sich um, sprang hin und her, wollte Hilfe, doch niemand war hier, aber sie musste hinterher. Vergeblich begann sie zu laufen, genau wie damals, als sie hinter dem Wagen hergespurtet war. Das alles durfte sich nicht wiederholen, sie musste diese Frau einholen. Schnaufend hielt sie im Lauf an, bückte sich und krümmte sich, atmete abgehackt ein und aus. Ihr Kreislauf machte nicht mehr mit, es wurde ihr schon schwarz vor den Augen, sodass sie sich an den Straßenrand setzen musste. Sie atmete ein und aus, so wie es ihr die Psychologin damals beigebracht hatte. Ein- und ausatmen, langsam, immer wieder. Ihr Oberkörper pochte, sie legte sich neben die Straße, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und schloss die Augen. Das Nummernschild, sie sah sich das Bild auf ihrer Kamera an. BGL TT 2... Die letzten Ziffern waren so verschwommen, dass sie sie nicht mehr identifizieren konnte. Scheiße, Mann. Sie fluchte, schwitzte, denn sie war es. Die Frau von vor so vielen Jahren. Sie war sich sicher. Dann hörte sie ein Geräusch, schnell setzte sie auf, denn vielleicht war das Auto ja umgedreht, was völlig sinnlos wäre. Ein Auto kam neben ihr zum Stehen. Ein Hupen. Infolge dessen stand sie auf und musterte den Mann, der sie verwundert anstarrte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er und sah sie von oben bis unten an.
»Nein, nein. Ich wurde ausgeraubt. Eine Frau in einem weißen Wagen. Ich bin mit ihr mitgefahren. Dann hat sie mir meine Sachen geklaut und mich rausgeschmissen«, log Sophia und wusste zugleich nicht, weshalb. Sie brauchte Hilfe, sie wollte, dass ihr jemand half. Aber in den letzten Jahren hatte sie gelernt, dass ihr die Wahrheit niemand glaubte. Weder die Polizei noch Freunde oder Familie. Nur sie allein kannte die Wahrheit, wenn es denn eine Wahrheit gab.
»Wollen Sie mitfahren? Ich kann Sie in die nächste Stadt mitnehmen. Dann können Sie zur Polizei gehen«, bot ihr der Mann an, den sie auf Mitte dreißig schätzte. Sie nickte und setzte sich auf den Beifahrersitz, denn sie konnte nicht mehr laufen, wollte auch nicht mehr.
»Wohin fahren Sie?«, fragte sie den Mann.
»Nach Berchtesgaden«, antwortete er und sie überlegte. Die Buchstaben des Nummernschildes waren doch aus Bergisch Gladbach, und Berchtesgaden lag doch dort, oder nicht? Obwohl sie sich nicht sicher war, beschloss sie, es zu versuchen.
»Kann ich mitkommen?«, fragte sie und er sah sie erstaunt an. Ihre Gedanken kreisten nur noch um BGL, das Kennzeichen der Frau. Bergisch Gladbach. Natürlich konnte sie sich vorstellen, wie viele Menschen dort lebten, trotzdem, sie würde diese Frau finden. Sophia öffnete ihren Rucksack und begutachtete den Inhalt so, dass der Fahrer es nicht sehen konnte. Denn er durfte natürlich nicht sehen, dass sie ihr Geld und alles noch bei sich hatte. Sie hatte ihre Karte dabei, Bargeld und den Ausweis. Nichts und niemand könnte sie von ihrem Plan abbringen, denn sie hatte nichts mehr zu verlieren. Alles, was ihr je wichtig gewesen war, war verloren, gestohlen.
»Ja, du kannst mitkommen. Entschuldige, darf ich dich dutzen?
„Ja, natürlich“, antwortete sie. 
„Was willst du dort in Berchtesgaden?«
»Ich will die Frau finden. Sie hatte ein Bergisch Gladbacher Kennzeichen. Ich werde dort zur Polizei gehen«, antwortete sie und fühlte sich gut. Ja, sie würde die Frau finden und sie würde es ihr heimzahlen. Etwas mehr als eine Stunde dauerte die Autofahrt, die sie mit Small Talk verbrachten. Der Mann, der Tom hieß, war nett. Er war ganz normal und anständig, hatte einen Sohn, wie er ihr erzählte, und sie stellte sich ihn als guten Vater vor. Sie hatte ihren nie kennengelernt, was ihr nichts ausgemacht hätte, wäre ihre Mutter da gewesen. Doch irgendwann war diese dem Alkohol verfallen und ab da war Sophia allein. Das Schnarchen der betrunkenen Mutter, die Männer, die sie mitgebracht hatte, konnten die Einsamkeit in ihrem Herzen nicht stillen. Denn keiner hörte ihr zu, niemand interessierte sich für sie.
»Hier ist die Polizeistelle, hier kannst du Anzeige erstatten«, erklärte ihr Tom und riss sie aus den Gedanken.
»Kommst du von hier?«, wollte sie von Tom wissen und er nickte. »Ja, da drüben, auf dem Hügel. In dem kleinen Ort lebe ich.« Sie sah hinüber, die Sonne schien auf die grünen Wiesen und sie konnte es sich bildlich vorstellen, wie seine Familie dort lebte. Glücklich, liebevoll, in einem schönen Haus.
Sie nickte, dann stieg sie aus und ging in die Polizeiwache, trat ein und wurde von einem kahlen Gang empfangen. Links war eine Art Rezeption, wenn man das so nennen konnte. Ein Glasfenster, dahinter zwei Polizisten. Beinahe wäre sie hingegangen, hätte in das kleine Loch im Glas gesprochen und ihre Geschichte geschildert. Wie so oft in ihrem Leben. Doch sie entschied sich dagegen. Entschlossen drehte sie sich um, sah durch die Glastür Tom wegfahren und trat wieder hinaus. Die Sonne blendete sie und sie sah sich um. Jetzt war sie also in Berchtesgaden. Hier irgendwo lebte diese blonde Frau, die ihr Leben zerstört hatte. Das Auto würde sie erkennen, es war dasselbe wie vor fünf Jahren. Das könnte sie beschwören. Ein Mercedes. Nicht das neueste Modell, wie ihr die Polizisten damals mitgeteilt hatten.
Wie sollte es nun weitergehen, frage sie sich. Sie brauchte eine Übernachtungsmöglichkeit, denn sie würde hier viel Zeit verbringen. Vermutlich wieder Jahre. Aber irgendwann würde sie die Frau finden, da war sie sich sicher. Und dann würde sie sie zur Rede stellen. Sophia sah sich um und entdeckte eine Touristeninformation, auf die sie zusteuerte.
»Ich suche eine günstige Übernachtungsmöglichkeit«, erklärte sie dem jungen Mädchen, das hinter dem Tresen stand.
»Es gibt in Berchtesgaden sehr viele Unterkünfte. Wenn Sie was Günstiges suchen, dann ist eine Pension das Richtige. Möchten Sie im Zentrum sein oder lieber auf einer der Bergstationen?«
»Lieber hier im Ort«, entgegnete Sophia.
Das Mädchen gab ihr eine Karte mit, in die sie mehrere Pensionen eingezeichnet hatte, jede hatte Zimmer frei. Und eine davon hatte die perfekte Lage. Direkt gegenüber der Gemeinde, eines Supermarktes und des Kindergartens. Alles war gut zu beobachten von hier aus. Als Sophia die kleine Pension betrat, roch es nach Nässe und Feuchtigkeit, oder besser gesagt nach Moder. Sophia konnte den Geruch nicht wirklich deuten und sah sich um, niemand war zu sehen oder zu hören.
Dann endlich nach einigen Minuten und unzähligen »Hallo«-Rufen kam ein alter Mann auf sie zu.
»Ich suche ein Zimmer. Am bestens eins hier raus«, sie deutete mit der Hand auf den Platz vor der Pension.
»Meine Tochter ist nicht da. Aber wir haben noch ein Zimmer im dritten Stock frei, das in diese Richtung geht. Aber Mädel, die Bezahlung musst du dann mit der Tochter abklären. Gell, lass mir deinen Ausweis da, dann passt das schon«, Sophia konnte ihr Glück kaum fassen, als sie von dem Mann in ihr Zimmer geführt wurde. Der Alte sah sie intensiv an, was ihr ein mulmiges Gefühl verursachte, schnell blickte sie wieder zu Boden. Blickkontakt konnte sie noch nie gut halten.
»Was suchst du denn bei uns?«, fragte der alte Mann, und sie fühlte sich ertappt. »Nun, gut. Ich lasse dich ja schon allein. Komm am Abend zu meiner Tochter, dann kannste zahlen.« Dann drehte er sich um und ging hinaus. Der Schlüssel steckte noch in der Tür und Sophia schloss sofort ab.
Sie atmete erleichtert aus, als sie endlich allein war. So viele Gefühle schossen ihr durch den Kopf. Müde und ausgelaugt setzte sie sich aufs Bett und schnaufte durch. Für heute wollte sie es gut sein lassen, zu viel war geschehen, zu viel Unruhe war in ihrem Körper. Ihre Augen fielen ihr beinahe zu, als sie das Fenster öffnete und danach mit ihren ganzen Klamotten aufs Bett fiel.
Einige Stunden Schlaf würden ihr guttun. Doch wie immer schreckte sie aus dem Traum empor, nur wenige Minuten nach dem Einschlafen. Sie sah sich selbst auf der Schnellstraße, umgeben von dem Wald. Dann fuhr der weiße Wagen vor, die Sterne über ihr leuchteten und dann sah sie die roten Augen der Frau im Wagen und wachte auf. Schweißgebadet fing sie an zu heulen. Diese Nacht vor fünf Jahren hatte alles zerstört. Einfach alles.

Freitag, 17. Mai 2019

Pure Emotionen: Leseprobe zur Neuerscheinung TOTENBETT

Pure Emotionen: Leseprobe zur Neuerscheinung TOTENBETT: Hier geht es zum Buch: Totenbett Vor fünf Jahren - wie alles begann Svetlana Das Blut war nicht zu sehen, denn die Leiche war zugedeckt, ...

Leseprobe zur Neuerscheinung TOTENBETT

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Vor fünf Jahren - wie alles begann

Svetlana

Das Blut war nicht zu sehen, denn die Leiche war zugedeckt, als würde sie friedlich schlafen. Nur die schwarzen, langen Haare schauten unter der Bettdecke hervor und sogar in dieser Situation wirkten sie noch verführerisch. Nichts ließ im Geringsten erahnen, wie grausam der Körper der Toten zugerichtet war.
Das Schlafzimmer, in dem sie lag, war aus Holz gezimmert, genauso wie die übrige Hütte, die so romantisch vor einem See lag, dass sie auf eine Postkarte gedruckt hätte werden können. Das Bett neben der Toten, war leer. Doch noch nicht lange. Würde jemand mit der Hand über das Laken streichen, so wäre es vielleicht sogar noch warm.
Die Tote hieß Svetlana Baranski. Wieso sie hier lag, in diesem Haus und offenbar ermordet wurde, das war die große Frage. Doch im Moment fragte sich das noch niemand, denn keiner wusste, dass sie tot war. Vermutlich ahnte sogar niemand, dass sie hier war. Denn zu Peter Beck, ihrem Verlobten, hatte sie ganz was anderes gesagt. Sie hatte gelogen und wieder war die Frage, wieso?
Der Mann, der gerade von einer kurzen Joggingrunde zurückkehrte, verschwitzt und verwirrt war, den sein Gewissen plagte, wischte sich die Haare vom Gesicht und öffnete dann die Tür zum Schlafzimmer. Er musste nach dieser Nacht unbedingt raus, doch lange hielt er nicht durch, das schlechte Gewissen trieb ihn zurück in das Haus, das er nur allzu gut kannte. Denn es war sein eigenes Ferienhaus, das er oft mit seiner Familie aufsuchte um zu entspannen und dem Alltag zu entfliehen.
Der Mann, dessen Name Anton Beck war, wusste, sie lag darin und ein Schauer fuhr ihm durch den ganzen Körper, als er ihre Haare sah, die ihm offenbarten, dass sie wirklich noch im Bett lag. Es war kein Alptraum, es war alles real gewesen in der Nacht. Ausgerechnet sie, dachte er sich!
Langsam schlich er sich an sie heran, er hatte Angst, denn das, was er getan hatte, war unverzeihlich. Obwohl es all seine Prinzipien sprengte, hatte er sich auf sie eingelassen. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals, als er um das Bett herumging und sie wecken wollte. Behutsam setzte er sich ans Fußende des Bettes und legte seine Hand auf ihre Oberschenkel, die von der dicken Bettdecke gewärmt wurden. Nicht nur er hatte einen Fehler begangen, auch sie. Svetlana war eine Lügnerin, eine Betrügerin und dennoch hatte er mit ihr geschlafen, nicht nur einmal. Nachdenklich schaute Anton aus dem Fenster, das die gesamte Front des Zimmers einnahm und blickte auf den See, der ruhig und eiskalt im Nebel vor ihm lag. Bevor er sie weckte, gönnte er sich noch einen winzigen Moment Ruhe, denn danach würde die Hölle über ihn hereinbrechen. Die Bilder der vergangenen Nacht schossen ihm wie Blitze durch den Kopf.
Blitz - Als er vor gefühlt einer Ewigkeit, in Wirklichkeit waren es keine zwölf Stunden, die Autotür öffnete und sie sich herunter bückte, um ihn zu begrüßen. Sie riss die Augen auf, er war irritiert, denn er erkannte sie erst auf den zweiten Blick. Sein Herz pochte, als sie einstieg, denn er wusste nicht, was er tun sollte. Das Logischste wäre gewesen, sie darauf anzusprechen, was sie hier tat. Doch natürlich wusste er es, er hatte nur nicht mit ihr gerechnet. Mit einer anderen Frau ja, aber nicht mit Svetlana Baranski, die einen Tag zuvor noch mit ihm einen Kaffee getrunken hatte, in der Wohnung seines Sohnes.
Anton Beck drehte sich ein wenig, um Svetlana betrachten zu können. Ihre dunklen, dichten Haare fielen ihr übers Gesicht, sie schien tief und fest zu schlafen. Verflucht, was sollte er tun? Einfach abhauen, ging es ihm durch den Kopf. Aber das wäre feige und das konnte er nicht tun. Eine Aussprache und Absprache mussten her. Aber er brachte es nicht über sich, sie zu wecken, denn er hatte vor dem Gespräch mit der Verlobten seines Sohnes, die er einen Abend zuvor hemmungslos gefickt hatte. Mehrfach, und wenn er daran dachte, wünschte er sich, er könnte es noch einmal tun. Tief in sie eindringen, die Leidenschaft spüren, ihren Körper riechen und schmecken. So wie er es die Nacht über getan hatte, immer wieder, bis sie eingeschlafen waren und er so glücklich, wie seit Jahren nicht mehr gewesen war.
Aber all das Warten auf das vermeintliche Gespräch brachten ihm nichts, also nahm er all seinen Mut zusammen, stand auf und berührte sie sanft, dann etwas energischer, an der Schulter.
„Svetlana!“, flüsterte er und streichelte sie zärtlich an der Wange. Erschrocken zog er seine Hand wieder zurück, denn das Gesicht von Svetlana war ungewöhnlich kühl. Seine keuchenden Atemzüge durchschnitten die Stille, als Anton an ihr rüttelte.
„Svetlana!“ Wieder nur ein Flüstern, denn er traute sich nicht, ihren Namen laut auszusprechen.
Zögerlich zog er die Bettdecke nach hinten und ihr nackter Oberkörper kam zum Vorschein. Doch das, was er nun sah, ließ ihm den Atem stocken. Das ganze Bett war rot durchtränkt. So viel Blut hatte er noch nie gesehen. Er riss die Bettdecke beiseite, stolperte nach hinten, bis er die Wand berührte, weiter konnte er nicht fliehen. Was in Gottes Namen war hier geschehen?, fragte er sich, doch er konnte keinen rationalen Gedanken fassen. Minutenlang blickte er auf die leblose Svetlana, die in ihrem eigenen Blut lag, und durch Dutzende Messerstiche in Bauch und Brust getötet worden sein musste.
Fassungslos starrte er auf seine zitternden Hände und begriff nicht, was um ihn herum geschehen war. Nach endlosen Minuten stand er langsam wieder auf, immer noch an die Wand gelehnt, wandte er den Blick kaum vom Bett ab. Die Szene erinnerte ihn an einen Horrorfilm, eine nackte, wunderschöne Tote, umhüllt von weißen Laken, blutbeschmiert und er mittendrin.
Erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass der Mörder noch hier sein könnte, dennoch verspürte er keine Angst. Nicht deswegen, aber wegen Svetlana. Sein Körper fühlte sich wie nach einem Autounfall, er wusste nicht, was er machen sollte. War völlig hilflos. Sein Blick ging zu seiner Armbanduhr, die ihm seine Frau gestern zum gemeinsamen Hochzeitstag geschenkt hatte. Dann schluckte er schwer, denn sein Leben wäre nun vorbei. Er musste die Polizei anrufen, musste seiner Frau und seinem Sohn erklären, was hier vorgefallen war. Doch wie sollte er Zusammenhänge erklären, die er selber noch nicht zusammenfügen konnte? Nervös ging er vor dem Bett auf und ab. Sein Blick streifte das Fenster, in das jeder Wanderer blicken konnte. Hastig zog er die Gardinen zu.
Für ihn und seine Frau war es immer ein kleiner Kick gewesen, wenn Wanderer einige hundert Meter entfernt vorbeigingen und herüberblickten, während sie beide nackt im schützenden Bett lagen. Heute sah das alles ganz anders aus. Es war zehn Uhr vormittags, ein Samstag. Da er schätzungsweise nur etwa eine viertel Stunde joggen war, hatte er demnach kurz vor neun Uhr das Haus verlassen. Als er aufgestanden war, lag sie bereits genauso da, wie jetzt. Folglich musste es passiert sein, während sie geschlafen hatten. Aber wie konnte das sein? Nein, das war unmöglich, dachte er sich.
Dann erinnerte er sich an das Kokain, das Svetlana dabei hatte. Es hatte ihn in eine Welt aus Sex und Leichtigkeit katapultiert und er hatte die Stunden wie in Watte gepackt genossen. Danach war er weggedämmert. Er erinnerte sich noch daran, ihre Haut gespürt zu haben. Ab dem Moment wusste er nichts mehr. Als er aufgewacht war, fühlte er sich total gerädert und geplagt von einem schlechten Gewissen, das er nie wieder loswerden würde, da war er sich sicher.
Jedenfalls wäre das ein geringes Problem gewesen, gegenüber diesem Fiasko. Anton stand so unter Schock, dass er die Tote, seine zukünftige Schwiegertochter, total ausblendete und nur noch an seine eigene Haut dachte. Er musste hier unbeschadet herauskommen. Wenn seine Frau und sein Sohn davon erfuhren, wäre alles aus. Paula würde ihn verlassen, sein Sohn Peter ihn verachten und er würde seine Tochter Katharina, die Nachzüglerin nie wieder sehen. Denn er kannte Paula nur zu gut, sie war eine Hexe, wenn sie verletzt wurde. Eine gottverdammte Bitch und dafür liebte er sie eigentlich. Doch das, was er letzte Nacht getan hatte, würde sie ihm nie verzeihen. Er hatte mit seiner eigenen Schwiegertochter geschlafen, das könnte keine Frau ausblenden. Es war das Allerletzte und würde nicht nur seine Frau zerstören. Alle paar Sekunden wischte er sich mit dem Handrücken die Schweißtropfen von der Stirn. Sein Handy hielt er fest in der Hand, denn er musste endlich die Polizei rufen. Doch er tat es nicht. Nicht jetzt und auch nicht eine Stunde später. Er tat es nie.
Denn er legte sein Telefon beiseite und traf eine folgenschwere Entscheidung.
Stunden später setzte er sich in sein Auto, schloss einen Moment die Augen und startete dann den Motor, um sich auf den Weg zu seiner Familie zu machen.

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Mittwoch, 9. Januar 2019

Neue Leseprobe zu "Das Narbenmädchen"

2018: verlorene Jahre

Tanja

Jeden Tag ein Kreuz auf ihrem Körper. Eins heller und tiefer, eins größer und eins kleiner. Für jeden Tag ohne sie. Für jeden Tag Schuld. Für jeden Tag Reue. Sie waren wunderschön, fand jedenfalls Tanja. Doch ihre Eltern hassten sie dafür, nicht nur für das, auch dafür, dass sie damals aufgegeben hatte. Tanja spürte es, immer, deshalb war sie auch aus dem gottlosen Dorf ihrer Kindheit weggezogen. Jeden Scheißtag nahm sie den Zirkel ihrer kleinen Schwester, hielt ihn in der Hand und betrachtete ihn lange, bevor sie mit dem Zeigefinger über die Spitze fuhr. Dieser Zirkel bedeutete Tanja alles, denn er gehörte ihrer Schwester. Aber sie war weg und hielt immer noch durch, irgendwo in der Nähe ihres Zuhauses. Tanja hatte nicht durchgehalten, jedenfalls nicht so lange wie ihre kleine Schwester. Deshalb war diese noch immer weg und Tanja fristete ein Dasein auf der Straße. Sie irrte umher, mal in Rom, mal in Mailand, mal in Florenz. Immer auf der Flucht vor ihren Dämonen, die ihr zuriefen, welch ein schlechter Mensch sie doch war. Sie glaubte es, denn es war die verdammte Wahrheit. Wer ging schon das Risiko ein, auf dass die kleine Schwester einem Monster zum Opfer fiel? Nur schlechte Menschen – und Tanja war einer von diesen.
Neben der Angst, der Panik und dem schlechten Gewissen machte sich noch ein anderes Gefühl in ihr breit. Eins, das stärker war als alle anderen. Ihre Schwester war besser als sie, denn sie war noch fort. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe gewesen, andere zu schützen. Sie war schließlich die Erste, die Auserwählte. Aber sie hatte auf ihn gehört, auf ihn vertraut und alles riskiert. Danach hatte sie mehr verloren, als sie gewonnen hatte. Ihre Familie war zerstört, ihre Schwester verschollen und Tanja wusste genau, wo, aber konnte niemanden hinführen. Denn wenn das Wo etwas war, das man nur von innen kannte, wie sollte man den Weg dorthin finden?
Jahrelang hatte sie damit verbracht, das Haus zu suchen, doch sie war gescheitert. Immer wieder. Jetzt war sie ein Wrack, das jeden Tag mindestens einen Schuss brauchte, sonst würde sie ihr erbärmliches Leben nicht ertragen können. Sie hätte sich umbringen können, aber dann würde sie nie herausfinden, ob ihre Schwester auch irgendwann aufgeben würde. Oder hatte sie keine Wahl, nicht so wie Tanja selbst sie gehabt hatte? Hatte er seine Strategie geändert? Hatte er mehr Gefallen an ihr gefunden? Sie hatte keine Antworten darauf, als sie den Zirkel in die rechte Hand nahm und eine freie Stelle zwischen ihren Oberschenkeln suchte. Dann ritzte sie einen etwa einen Zentimeter großen Strich und dann den zweiten. Es tat nicht weh, es war ein erleichterndes Gefühl, das Tanja spürte, und sie war stolz auf ihre Kreuze. Keinen Tag ohne Mimi hatte sie vergessen, keinen Einzigen. Sie weinte, als sie sich nach dem Ritzen des Kreuzes eine Spritze in den Oberschenkel setzte, und ließ sich erleichtert zurückfallen, um in einen rauschenden Traum zu verfallen. Es tat so gut, so unendlich gut, nicht an den Schmerz zu denken, einfach zu sein, einfach zu leben.
Ihre Augen verdrehten sich, Sabber rann ihr aus ihrem Mund, ihre Hose hing zwischen ihren Beinen, aber all das nahm sie nicht wahr. Es würde eine Weile dauern, ehe sie wieder zu sich kommen und erneut in ihren eigenen Horrorfilm katapultiert werden würde.

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