Ich sehe hinab in die Schlucht und weiß, dass ich in
wenigen Minuten tot sein werde. Gleich werde ich sterben. Dann hebe ich meinen
Kopf, öffne die Augen und sehe die Wolken, die schnell an mir vorbeiziehen.
Eine nach der anderen. Sie sind wunderschön weiß, dahinter der strahlend
hellblaue Himmel, der so gar nicht zu diesem Anlass passt. Niemand ist in der
Nähe. Ich bin allein, abseits vom Touristentrubel. Es darf auch keiner hier
sein, denn in meiner rechten Hand halte ich eine Pistole. Sie fühlt sich kalt
an, ein schweres Teil, das alles zerstört hatte. Oder war es die Hand gewesen,
die sie geführt hatte? Wer weiß das schon? Es ist nicht mehr zu ändern. Ein
Schuss aus dieser Pistole hatte dazu geführt, dass ich nun hier stehe. Direkt
am Abgrund. Ich habe Angst. Aber ich unterdrücke den Schmerz, den Kummer, den
Hass. Diese Gefühle helfen mir nicht weiter. Sie zeigen mir nur, wie tief ich
doch gesunken bin, wir alle. Ich sehe bis ganz nach unten und erkenne ganz
klein den See vor mir. Oft waren wir als Familie hier gewesen. Als noch alles
in Ordnung gewesen war. Es hatte damals noch keinen Streit gegeben, keine
Erbärmlichkeiten, keinen Hass. Oder aber ich war zu klein gewesen, zu dumm, um
zu erkennen, dass meine Familie eine reine Fassade war. Ich schließe die Augen,
der Wind wird stärker und ich schwanke leicht, aber mir wird nicht schwindelig,
ich liebe die Höhe. Ich sehe meine Eltern vor mir, die sich küssen, sich
aneinanderschmiegen, gemeinsam lachen. Ja, das sehe ich in meinen Erinnerungen.
Aber dann kommen mir wieder die schlimmen Streitereien in den Sinn. Um Geld, um
Schulnoten, um den Haushalt – ach, um einfach alles hatten sie gestritten. Laut
und mit bösen Worten. In diesen Momenten hatte sich Konrad, mein kleiner
Bruder, an mich gekuschelt und wir hatten mit Kopfhörern Geschichten gehört.
Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg, Pumuckl. Alte Sachen, die uns unsere Oma
geschenkt hatte.
Ich öffne die Augen und weiß, wenn ich den einen Schritt
nach vorne wage, ist alles vorbei. Dann habe ich es geschafft und die anderen
sind frei, für immer. Ich muss es tun, für sie. Dann fange ich an zu zittern,
denn der Zeitpunkt naht, an dem ich springen muss. Ich kann nicht mehr zurück
in die Gondel, die mich ins Tal bringen könnte. Das ist unmöglich. Ich nehme
die Pistole in beide Hände, stecke sie in den Rucksack, schnalle ihn mir um,
ganz fest, dass er auf keinen Fall beim Sprung abreißt. Er muss an mir dran
bleiben, die Pistole muss bei mir sein. Mit meinen Fingerabdrücken darauf. Dann
fühle ich den Brief, er ist noch da. Ich stecke ihn in die Hosentasche zurück
und schließe erneut die Augen, spüre den Wind, höre die Vögel, das Rauschen des
Bachs und des Waldes. Kann man sich denn einen schöneren Tod wünschen? Ich
glaube nicht. In diesem einen letzten Moment stehe ich einfach da, und lebe.
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