(unlektoriert/ unveröffentlicht)
In diesem Moment:
Lilly
Ich sehe hinab in die Schlucht und weiß, dass ich in
wenigen Minuten tot sein werde. Ich schließe die Augen und spüre das Blut, das
mir auf der Innenseite meiner Schenkel herabrinnt, ehe es als ein winziger
Tropfen im Boden versiegt. Gleich werde ich sterben. Dann hebe ich meinen Kopf,
öffne die Augen und sehe die Wolken, die schnell an mir vorbeiziehen. Eine nach
der anderen. Sie sind wunderschön weiß, dahinter der strahlend hellblaue
Himmel, der so gar nicht zu diesem Anlass passt. Niemand ist in der Nähe. Ich
bin alleine, abseits vom Touristentrubel. Es darf auch keiner hier sein, denn
in meiner rechten Hand halte ich eine Pistole. Sie fühlt sich kalt an, ein
schweres Teil, das alles zerstört hat. Oder war es die Hand, die sie führte?
Wer weiß das schon? Es ist nicht mehr zu ändern. Ein Schuss aus dieser Pistole
hat dazu geführt, dass ich nun hier stehe. Direkt am Abgrund. Ich blute immer
noch, es wird nicht mehr aufhören das weiß ich. Ich fühle es einfach. Aber ich
unterdrücke den Schmerz, er hilft mir nicht weiter. Er zeigt mir nur, wie tief
ich doch gesunken bin, wir alle. Ich sehe ganz unten, ganz klein den See vor
mir. Oft waren wir hier als Familie. Als noch alles in Ordnung war. Es gab
damals noch keinen Streit, keine Erbärmlichkeiten, keinen Hass. Oder aber, ich
war zu klein, zu dumm zu erkennen, dass meine Familie eine reine Fassade war.
Ich schließe die Augen, der Wind wird stärker und ich schwanke leicht, aber mir
wird nicht schwindelig, ich liebe die Höhe. Ich sehe meine Eltern vor mir, die
sich küssen, sich aneinanderschmiegen, gemeinsam lachen. Ja, das sehe ich in
meinen Erinnerungen. Aber dann kommen mir wieder die schlimmen Streitereien in
den Sinn. Um Geld, um Schulnoten, um den Haushalt, ach um einfach alles haben
sie gestritten. Laut und mit bösen Worten. In diesen Momenten hat sich Konrad,
mein kleiner Bruder an mich gekuschelt und wir haben mit Kopfhörern Geschichten
gehört. Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg, Pumuckl. Alte Sachen, die uns
unsere Oma geschenkt hat.
Ich öffne die Augen und weiß, wenn ich den einen Schritt
nach vorne wage, ist alles vorbei. Dann habe ich es geschafft und die anderen
sind frei, für immer. Ich muss es tun, für sie. Dann fange ich an zu zittern,
denn der Zeitpunkt naht, an dem ich springen muss. Ich kann nicht mehr zurück
in die Gondel, die mich ins Tal bringen könnte. Das ist unmöglich. Ich nehme
die Pistole in beide Hände, stecke sie in den Rucksack, schnalle ihn mir um,
ganz fest, dass er auf keinen Fall beim Sprung abreißt. Er muss an mir dran
bleiben, die Pistole muss bei mir sein. Mit meinen Fingerabdrücken darauf. Dann
fühle ich den Brief, er ist noch da. Ich stecke ihn in die Hosentasche zurück
und schließe erneut die Augen, spüre den Wind, höre die Vögel, das Rauschen des
Bachs und des Waldes. Kann man sich denn einen schöneren Tod wünschen? Ich
glaube nicht. In diesem einen letzten Moment stehe ich einfach da, und lebe.
(Bildquelle: Fotalia)
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