Das Grab, Sommer 1932 (Hier geht es zum Buch: Rachezwilling)
Josefa
Im Sommer 1932 lag ein junges Mädchen mit dem Namen Josefa in Neu Futok auf einer Wiese, unweit ihres Zuhauses.
Sie war allein, lag auf dem Rücken, genoss die warmen Sonnenstrahlen und weilte gedanklich in einer Traumwelt.
Sie hörte entfernt die Männer und Frauen bei der Feldarbeit, dort sollte auch sie sein, aber sie hatte sich davongeschlichen.
Die Schläge ihres Vaters am Abend waren ihr gewiss, doch das hinderte sie nicht daran, die Einsamkeit des Moments zu genießen.
Sie war nie allein, nur wenn sie sich davonschlich, so wie heute. Es war kein schlechtes Leben, das sie und ihre Familie führten, aber es ging einher mit harter Arbeit und wenig Platz und Freiraum für ein einzelnes Mädchen. Sie schloss die Augen, träumte sich an die Seite eines jungen Prinzen, der sie entführte und liebte.
»Hilfe, so helft mir doch.«
Plötzlich wurde sie vom Geschrei einer Frau aus den Gedanken gerissen, dann laute Rufe von Männern.
Es musste etwas passiert sein.
Sie setzte sich auf, blickte über die hohen Gräser in die Richtung, aus der sie den Tumult vermutete. Sie sah nichts, denn ein kleiner Wald lag zwischen ihr und dem Dorf, vor dem sie geflohen war. Jetzt aber sprang sie auf und begann zu rennen. Zuerst durch die Gräser, die sie an den sonnengebräunten Beinen kitzelten, dann durch den kleinen Wald, durch feuchtes Moos und über einen schmalen Bach.
Sie sah nun hinab auf das Feld, auf dem gearbeitet wurde. Es war der Acker eines Bauern, den sie gut kannten. Ihr Vater und ihre schwangere Mutter waren dort, auch ihre Schwestern, nur sie hatte sich davongeschlichen.
Alle standen um einen Pferdewagen herum.
Das Flehen der Bäuerin war zu hören sowie das Wimmern der umstehenden Kinder.
Endlich kam sie an, drängte sich zwischen ihre Familie, sah hinab auf den kleinen Jungen, der leblos in den Armen der Mutter hing.
Die Bäuerin sah gen Himmel und stieß einen verzweifelten Schrei aus, der Josefa an ein verletztes Tier erinnerte. Dann ließ die Mutter die Schultern hängen, blickte auf ihr totes Kind und wiegte es vor und zurück. Die Kinder weinten um einen ihrer Brüder, auch Josefa kannte den kleinen Jungen gut und konnte die Tränen nicht zurückhalten.
Sie wurde den Kloß im Hals nicht los. Konnte sich nicht bewegen, nichts sagen.
Noch nie war sie dem Tod so nahe gewesen wie in diesem Moment.
Ein kerngesunder Junge, keine drei Jahre alt, war von einem Pferdewagen gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen.
Der Arzt wurde geholt, zu Fuß war einer der älteren Jungen kilometerweit ins nächste Dorf gelaufen. Keiner hatte einen Wagen, nur der Bauer hatte einen Pferdewagen. Doch keiner war imstande, mit diesem auszurücken – war doch zuvor erst der Junge heruntergestürzt.
Stunden später kam der Arzt mit seinem eigenen Gespann angefahren, ein alter, dürrer Mann, den Josefa kannte. Sie hatte sich selbst einmal schwer verletzt und war mit eben diesem Pferdewagen des Bauern, der dem Jungen das Leben gekostet hatte, zum Arzt gefahren worden.
Damals war alles gut ausgegangen.
Doch nun war ein Junge tot.
Stille lag über dem Dorf. Jeder kannte sich, die Trauer überkam alle Bewohner, und die Arbeit stand für einen Tag still. Josefa dachte lange über den Tod nach und wollte darüber sprechen, doch ihre Mutter hatte kein Ohr für ihre Probleme.
Sie war über der Zeit, wie sie immer wieder betonte, und ihre Angst, erneut ein Mädchen zu gebären, war groß.
Die zehnjährige Josefa verstand diese Angst nicht, wie so vieles in dieser Zeit unverständlich war. Die Kinder mussten schweigen, wenn die Erwachsenen sprachen – sie hatten keine Stimme. Sie und ihre Schwestern waren artig und tüchtig, gehorchten, gingen zur Schule und danach aufs Feld. Sie konnten genauso gut zupacken wie die Jungen aus dem Dorf, doch ihr Vater wünschte sich einen Stammhalter, einen Sohn, der in seine Fußstapfen treten sollte. Er schrie seine Frau deswegen oft an und gab ihr die Schuld an den Weibergeburten, wie er sie nannte. Josefa fühlte sich klein und dümmlich, wenn ihr Vater über Weiber herzog, sie beschimpfte und verdrosch. So war das zu dieser Zeit, als vieles keinen Wert hatte und so vieles andere dafür einen höheren.
Am nächsten Morgen musste die Arbeit weitergehen. Der Bauer, der reicher als Josefas Familie war, stand am nächsten Morgen wieder auf dem Feld. Da war sein Sohn noch nicht einmal zu Grabe getragen worden. Nur die Bäuerin war nicht in Sicht – für lange Zeit nicht, man sah sie nur noch selten nach dem Unfall des Kindes. Er war ihr Jüngster gewesen, ihr Liebling.
Sie hatte ihn immer auf dem Rücken getragen.
Nur an diesem schrecklichen Tag nicht.
Am nächsten Tag setzten bei Josefas Mutter die Wehen ein, und alle Schwestern beteten, es möge endlich ein Bruder kommen.
Der Vater ging in die Wirtschaft, wollte nicht dabei sein, wenn das nächste Weib das Licht der Welt erblickte. Er drohte damit, es in den Bach zu schmeißen, aber keiner glaubte ihm das.
Er war oft betrunken, schlug ihre Mutter und auch die älteste Schwester, manchmal auch die kleinen Mädchen, aber nie mit dem Stock. Die Mädchen holten Wasser und Tücher, halfen der Mutter bei der Geburt, die so schnell zu Ende war, wie sie begonnen hatte.
Im Stehen presste sie das Kind heraus, das sofort laut und gellend schrie. Die Mutter traute sich nicht, es zu betrachten. So schaute die älteste Schwester nach dem Geschlecht, alle anderen Mädchen standen in der Ecke und beteten. Doch die Augen der Ältesten sprachen Bände.
Es war wieder ein Mädchen. Dann fing die Mutter an zu weinen und zu schreien. Die Mädchen bekamen Angst und flüchteten nach draußen. Die Älteste kümmerte sich um die Mutter, sie waren sich ohnehin am ähnlichsten, grob und beinahe ohne Gefühle. Anders als Josefa, die viel Liebe in sich trug, welche hinaus in die Welt getragen werden wollte.
Doch es war noch nicht zu Ende.
»Es kommt noch eins«, rief die Schwester.
»Hoffentlich diesmal ein Junge«, hörte sie ihre Mutter.
Und die Mutter schrie erneut.
Presste und keifte.
Und als das Kind endlich herauskam, weinte es nicht.
Der Junge war tot.
Die Stille danach erdrückte Josefa und ihre Schwestern beinahe.
Die Mutter hielt das Kind in den Händen. Der Sohn war endlich geboren worden. Aber er war tot.
»Sie hat ihn getötet«, schrie sie plötzlich und stürmte auf die älteste Tochter zu. Josefa bekam es mit der Angst zu tun.
»Sie hat meinen Sohn getötet!« Die Mutter nahm das neugeborene Mädchen und schüttelte es.
»Nein, Mama. Hör auf«, wimmerte Josefa. Wie immer war sie die Einzige, die sich gegen ihre Mutter stellte. Das Baby konnte doch nichts dafür.
Die älteste Schwester entriss der Mutter dann das Kind.
Das Blut sickerte aus dem Unterleib ihrer Mutter und dieses Bild würde sich für immer in das Gedächtnis der Schwestern einbrennen.
Dann brach die Mutter von so vielen Mädchen zusammen.
Es wurde Nacht, der Vater war noch nicht zu Hause, da schlichen die älteste Tochter und die Mutter nach draußen.
Josefa, die nicht schlafen konnte, beobachtete die beiden und folgte ihnen.
Weit waren sie gelaufen, kilometerweit in den Wald hinein, bis die Frauen innehielten und das Baby erneut betrachteten.
Josefas Herz schlug ihr bis zum Hals, noch nie im Leben hatte sie so viel Angst verspürt wie in diesem Moment hinter dem Baum. Sie sah die Menschen, die sie am meisten liebte, bei einer Tat, die grausamer war als alles, was sie sich in ihrem kindlichen Leben vorstellen konnte.
Sie traute sich kaum, zu atmen, durfte sich keinen Schritt bewegen, denn ein Knacks, ein falscher Schritt, und sie würde in ihrem feuchten Versteck auffliegen.
Stundenlang hatte es geregnet, während der Wehen ihrer Mutter hatte es sogar geblitzt und gedonnert, so als würde sich selbst der Himmel gegen diese Geburt auflehnen. Aber auch Gott hatte nicht das Recht, sich gegen dieses Leben zu entscheiden. Josefa war so jung, so unschuldig und trug so viel Liebe in sich, sie konnte bei diesem Verbrechen nicht zusehen.
Und wenn sie für dieses Wesen sterben würde, dann wäre es ihr Schicksal. Schon immer hatte sie sich aufgebäumt, war anders als gewöhnliche zehnjährige Mädchen, und dafür hatte sie schon viele Ohrfeigen ihres Vaters eingesteckt.
Ihr Körper erstarrte, denn sie hatte sich nur einen Millimeter bewegt, doch der Boden unter ihr knisterte und die Frauen drehten sich nach ihr um.
Sie duckte sich, traute sich nicht, die Augen zu öffnen.
Ihr Puls schoss in die Höhe, sie presste die Augen so sehr zusammen, dass sie zu zittern begann. Sie hörte nichts, denn ihr Körper schien erstarrt zu sein, gelähmt, aus Angst, entdeckt zu werden.
»Vermutlich ein Tier. Beenden wir es«, hörte sie die vertraute Stimme ihrer Mutter und atmete erleichtert aus.
Dann öffnete sie die Augen und wagte wenige Sekunden später einen Blick hinter dem Baum hervor. Der Himmel war hell, denn der Mond schien auf sie herab. Die Wolken hatten sich verzogen, es regnete nicht mehr, und es roch nach einer lauen, feuchten Sommernacht, nach Moos und Gras, nach Wald und Wiese.
Ein schöner Geruch, sie liebte diese Jahreszeit, und doch war dies der schlimmste Moment ihres Lebens. Denn nun erblickte sie das Loch im Boden, hörte das Bündel leise wimmern, das in diesem Moment in einer Kiste verstaut in den Boden gelegt wurde.
Sie hörte das Schluchzen der Frauen, die sich an den Händen hielten.
»Es muss sein«, hörte sie die weinende Stimme ihrer Mutter.
»Aber so?«, fragte ihre Schwester. Nein, nicht so, dachte sich Josefa und betete, sie mögen sich umentscheiden, das Bündel herausholen und an sich nehmen.
Der Vater würde sich schon wieder beruhigen, so wie er es immer tat.
»Ich kann ES nicht töten, es muss von allein sterben«, hörte sie ihre Mutter flüstern, dann schwiegen die Frauen wieder, die einst Josefas Vorbilder gewesen waren.
Die sie in den Schlaf gewiegt hatten, mit denen sie gebetet und gekocht hatte. Die jede Nacht neben ihr eingeschlafen waren.
Würde sie ihnen jemals wieder in die Augen sehen können, fragte sich das Mädchen und schüttelte den kindlichen Kopf. Ihre Zöpfe hingen ihr lang über die Schultern, sie war noch so klein und doch so weise, wie viele Menschen nie in ihrem Leben werden würden.
Dann schrie das Baby und das grelle katzenartige Geschrei ging Josefa durch Mark und Bein. Sie musste weinen, hielt sich die Hände vor den Mund und ekelte sich vor ihrer Familie.
Sie zitterte.
Panik ummantelte ihren Körper und ihren Geist.
Abscheu fühlte sie, als sie ihre Mutter und ihre Schwester vor diesem Grab stehen sah.
Das Geschrei des Babys übertönte alle anderen Geräusche. Der Wind und die Blätter, einfach alles Schöne wurde durch dieses Geheule, das nun in ein Wimmern überging, überschattet.
Das Weinen wurde leiser und mit jedem Schaufelhieb Erde auf den Sarg verstummte das Baby mehr und mehr. Dieses Baby hätte eigentlich Josefas Schwester sein sollen. Es würde ihre Schwester sein, sie würde dafür sorgen, denn sie konnte dieses schutzlose Kind nicht der Erde überlassen. Auch wenn sie dafür ihre Mutter und ihre Schwester verriet. Es war ihr egal, denn sie hatte einen eisernen Willen, wenn es um Gerechtigkeit ging.
Ihre Mutter und ihre Schwester schluchzten, lagen sich in den Armen und standen ewig vor dem Grab.
Plötzlich war das Baby nicht mehr zu hören.
Josefa wurde immer unruhiger und nervöser.
Sie musste es ausgraben. Mutter und Schwester sollten endlich verschwinden. Also musste sie etwas unternehmen, sonst würde es sterben. Sie sah sich um, blieb aber wie angewurzelt stehen, sie durfte sich nicht verraten. Nicht so nah am Ziel. Dann nahm sie einen Stock, der neben dem Baum lag. Sie warf ihn, so weit sie konnte in irgendeine Richtung, es war egal. Hauptsache, die beiden erschraken sich.
»Mutter, was war das?«, flüsterte ihre Schwester, und ihre Mutter packte sie am Handgelenk.
»Lauf!«, hörte Josefa noch, bevor sie anfingen zu rennen. Sie liefen durch den Wald, vermutlich nach Hause. Legten sich neben ihre Schwestern ins Bett und schliefen. Taten so, als wäre nichts geschehen. Sie würden behaupten, beide Babys wären gestorben. Kein Hahn krähte damals nach einem verstorbenen Kind, schon gar nicht nach einem Mädchen.
Josefa sah sich um und traute sich zuerst nicht aus dem Versteck, denn sie begann zu zweifeln. Was sollte sie tun, fragte sie sich immer wieder. Dann lief sie die wenigen Meter zum Grab und fing an zu buddeln. Sie hatte keine Schaufel dabei, denn ihre Mutter hatte diese in der Hand gehabt, als sie davonliefen. Dem Mädchen rannen Tränen über die Wangen, und sie schluchzte und schrie, denn ihr Weltbild war zerstört.
Ihre Finger gruben sich tiefer in die Erde, der Dreck klebte an ihren Händen, unter ihren Nägeln.
Sie heulte und wischte sich immer wieder mit den Händen übers Gesicht. Sie weinte um das Ansehen ihrer Mutter, das nie wieder zurückkehren würde. Denn eine Mutter tötete nicht ihr eigen Fleisch und Blut, nur um dem Mann seinen Willen zu lassen. Sie war feige, und das würde Josefa ihr niemals verzeihen.
Als sie die Kiste berührte, stockte ihr der Atem, und als sie den Schrei aus dieser wahrnahm, sprang sie auf.
Sie erschrak und hatte unheimliche Angst vor dem Wesen unter dem Deckel.
Sie atmete ein und aus, beruhigte sich, denn von dem Baby konnte keine Gefahr ausgehen, redete sie sich ein. Sie musste klar denken, also nahm sie die Kiste, befreite sie von der letzten Erde und öffnete den Deckel, der nur draufgelegt war. Als sie dann das rote Gesicht des Babys sah, das wie verrückt schrie und schon ganz aufgelöst wirkte, nahm sie es an sich und wiegte es hin und her. Das Baby krächzte aus Leibeskräften, und Josefa weinte um ihr Leben.
Was sollte nun werden?
Tränenüberströmt, blutig und klebrig von den Resten der Geburt, lief sie Stunden später durch die Dämmerung ins Nachbardorf. Sie hatte nur eine Chance und hoffte, diese wäre die Richtige. Das Baby hielt sie fest und geschützt am Körper. Es war erschöpft und vermutlich vor Hunger und Angst eingeschlafen. Sie lief und hoffte und betete, niemand möge sie sehen. Und dann sah sie das Haus und musste sich entscheiden.
Sollte sie das Baby dorthin bringen? War es richtig?
Sie sah auf das kleine Wesen in ihren Armen und traf eine Entscheidung, die ihr Leben, das dieses Babys und ihrer Familie in eine andere Richtung lenkte, für immer. Unwiderruflich.
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