Montag, 2. September 2019

Auszug aus meinem neuen Psychothriller "Die Tramperin"

"Die Tramperin"

 Hier der Link zum Buch.


Fünf Jahre später

Sophia

Sophia Keller war dreiundzwanzig Jahre alt, trug ihre langen braunen Haare meist zu einem Pferdeschwanz und war einen Meter sechzig groß. Sie war sehr schlank, trug immer eine ausgewaschene Jeans und eine Lederjacke und machte sich, wie jeden Tag, auf den Weg zur Schnellstraße, unweit ihres Zuhauses entfernt. Sie nahm immer den gleichen Weg, genau den, den sie vor vier Jahren auch genommen hatte. Ihre Kamera, die sie sich mühsam mit ihrem Hartz-IV-Geld zusammengespart hatte, hing um ihren Hals. Auch wie jeden Tag. Die Bewohner des kleinen bayrischen Ortes, unweit von München entfernt, kannten die Tramperin, die Verrückte, die Irre, wie sie viele bezeichneten. Sie war hübsch, aber jeder wusste, sie war nicht ganz dicht. Die Menschen mieden sie, doch immer wieder nahm sie auch wer mit, aus Mitleid oder Barmherzigkeit, genau wusste man das nicht. Sophia hatte niemanden und brauchte niemanden. Sie war auf der Suche nach etwas, das sie verloren hatte. Vor fast fünf Jahren. Niemand hatte ihr damals geglaubt. Nicht die Polizei, nicht ihre Familienhelferin, nicht ihre betrunkene Mutter. Niemand. Sie war allein und würde immer allein sein, bis sie das wiederfinden würde, was sie verloren hatte. Vergessen war das bessere Wort dafür.
Es war der 26. Mai 2018, fast fünf Jahre später, als sie wieder auf der Schnellstraße entlangging, nicht mehr taumelte, wie damals. Sie hatte den Drogen abgeschworen, denn nun hatte sie eine Mission und dazu musste sie clean sein. Sie hatte es geschafft. Sie brauchte keine Familienhelferin, denn sie war nun kein Teenager mehr. Sie brauchte keine Mutter mehr, denn die hatte sich totgesoffen. Sie brauchte niemanden mehr. Nur noch diese Straße. Jeden Tag, tagein, tagaus. Der erste Akt des Tages war, in die Tankstelle zu gehen, sich eine Cola light und einen Donut zu kaufen und mit der Kassiererin zu sprechen. Es waren drei Kassierinnen beschäftigt, mit denen sie täglich sprach. Sie hatte ein Bild von der Frau angefertigt, die sie damals beraubt hatte, und es den Kassiererinnen gegeben. Sie sollten sich das Kennzeichen der Dame notieren, sollte sie in die Tankstelle kommen. Doch seit fünf Jahren passierte nichts, kein Anruf, keine Notiz für sie. Niemand nahm sie ernst, alle dachten, sie wäre eine Verrückte. Aber was wussten die schon, dachte sich Sophia. Sie kannte die Wahrheit. Nur sie allein, und irgendwann würde sie es beweisen können.
Sie trank die Cola light, aß den Donut und verabschiedete sich dann von der Kassiererin, die ihr lächelnd zunicke, als sie die Tankstelle verließ.
Die Sonne strahlte vom Himmel, als sie die Schnellstraße entlangging und jedes Auto genau beobachtete. Wenn sie dachte, es könnte die Frau von damals sein, machte sie ein Foto vom Nummernschild. Doch bisher war sie erfolglos. Unzählige Bilder hatte sie geschossen, keines führte sie zu ihrem Sohn. Einmal die Woche stapfte sie zur Polizei, mit der Bitte, sich die Nummernschilder anzusehen und ihr Bescheid zu geben, ob das Auto einer Frau Anfang vierzig gehörte. Damals war diese blond und schlank gewesen, und bestimmt hatte sie viel Geld. Sophia wusste noch, wie sie sich gedacht hatte: Oh Mann, trägt die Alte Klunker um den Hals und Ringe an den Fingern. Doch diese Beschreibung passte wohl auf Tausende von Frauen zu. Der Glaube daran, sie irgendwann zu finden, hielt sie am Leben. Das war die einzige Hoffnung, die sie noch hatte. Ansonsten müsste sie aufgeben, und das würde ihren Tod bedeuten. Ohne ihren Sohn hatte und hätte alles keinen Sinn mehr. Die letzten Jahre hatte sie sich nur mit dem Gedanken an ihn, an seinen Geruch, seine Grübchen, seine Pölsterchen an den Armen vor einem letzten Schuss, dem tödlichen Schuss bewahrt.
Doch dieser Maitag, der ungewöhnlich warm war und das, obwohl es erst kurz vor Mittag war, änderte alles. Sophia hielt einen Stock in der Hand, den sie drehte und mit dem sie Steine wegkickte. Hätte sie nicht so ein erbärmliches Leben, wäre dieser Tag ein Geschenk. Die Sonne schien, sie war umgeben von Wald und es war still. Bis auf die Autos, die ab und zu vorbeisausten. Bisher waren es nur Männer, keine einzige Frau war vorbeigekommen. Sophia schwelgte in Erinnerungen an alte Zeiten. Zeiten, die im Nachhinein gar nicht so übel waren, doch wirklich gut waren sie auch nie. Ihren Vater kannte sie nicht, die Mutter war eine Trinkerin, die ihr nie genügend Liebe geben konnte. Geborgenheit, Liebe, Verständnis, das waren die Dinge, nach denen sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte. Durch die Geburt von Adam hatte sich alles geändert und doch eigentlich kaum etwas. Sie hatte das Kiffen und das Trinken nicht aufgegeben, obwohl sie wollte. Die Versuchungen waren zu groß. Dennoch kümmerte sie sich liebevoll um Adam, das wusste sie tief in ihrem Innern. Auch wenn die Dämonen, die sie oft nachts heimsuchten, ihr etwas anderes ins Ohr flüsterten.
Sophia zuckte zusammen, ihre Erinnerungen verloren an Kraft, denn sie hörte endlich wieder einen Wagen hinter sich. Sie drehte sich um, denn der Wagen kam von der Richtung, aus der auch sie kam. Sie sah ihn schon von Weitem. Er war weiß, genauso wie der vor fünf Jahren, und ihr Herz blieb beinahe stehen, denn ein weißes Auto war selten, wie sie die Jahre feststellen musste. Es kam näher und näher, ihre Hände wurden nass, die Beklemmung nahm zu, die Angst stieg ihr in den Magen. Es war ein großer Wagen, dann blendete sie plötzlich die Sonne. Scheiße, dachte sie sich und hielt sich die Hände vor die Augen. Die Brust zog sich zusammen, ihr Körper war angespannt, als SIE an ihr vorbeifuhr: Es war eine Frau. Sophia erkannte blonde, lange Haare und blickte ihr für eine Sekunde in die Augen. Auch die Frau musterte sie und für wenige Augenblicke schien die Welt stillzustehen. Das Auto wurde sichtlich langsamer, bevor die Frau ihren Mund aufriss und Gas gab. Die Reifen quietschten und Sophia blieb geschockt und ungläubig stehen, denn diese Frau war die von damals. Das Auto zischte davon. Sophia drehte sich um, sah den Wagen von hinten und machte sofort ein Foto, so wie sie es schon unzählige Male zuvor gemacht hatte. Aber das Zittern in ihren Händen führte dazu, dass das Bild verschwommen war. Scheiße. Nervös blickte sie sich um, sprang hin und her, wollte Hilfe, doch niemand war hier, aber sie musste hinterher. Vergeblich begann sie zu laufen, genau wie damals, als sie hinter dem Wagen hergespurtet war. Das alles durfte sich nicht wiederholen, sie musste diese Frau einholen. Schnaufend hielt sie im Lauf an, bückte sich und krümmte sich, atmete abgehackt ein und aus. Ihr Kreislauf machte nicht mehr mit, es wurde ihr schon schwarz vor den Augen, sodass sie sich an den Straßenrand setzen musste. Sie atmete ein und aus, so wie es ihr die Psychologin damals beigebracht hatte. Ein- und ausatmen, langsam, immer wieder. Ihr Oberkörper pochte, sie legte sich neben die Straße, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und schloss die Augen. Das Nummernschild, sie sah sich das Bild auf ihrer Kamera an. BGL TT 2... Die letzten Ziffern waren so verschwommen, dass sie sie nicht mehr identifizieren konnte. Scheiße, Mann. Sie fluchte, schwitzte, denn sie war es. Die Frau von vor so vielen Jahren. Sie war sich sicher. Dann hörte sie ein Geräusch, schnell setzte sie auf, denn vielleicht war das Auto ja umgedreht, was völlig sinnlos wäre. Ein Auto kam neben ihr zum Stehen. Ein Hupen. Infolge dessen stand sie auf und musterte den Mann, der sie verwundert anstarrte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er und sah sie von oben bis unten an.
»Nein, nein. Ich wurde ausgeraubt. Eine Frau in einem weißen Wagen. Ich bin mit ihr mitgefahren. Dann hat sie mir meine Sachen geklaut und mich rausgeschmissen«, log Sophia und wusste zugleich nicht, weshalb. Sie brauchte Hilfe, sie wollte, dass ihr jemand half. Aber in den letzten Jahren hatte sie gelernt, dass ihr die Wahrheit niemand glaubte. Weder die Polizei noch Freunde oder Familie. Nur sie allein kannte die Wahrheit, wenn es denn eine Wahrheit gab.
»Wollen Sie mitfahren? Ich kann Sie in die nächste Stadt mitnehmen. Dann können Sie zur Polizei gehen«, bot ihr der Mann an, den sie auf Mitte dreißig schätzte. Sie nickte und setzte sich auf den Beifahrersitz, denn sie konnte nicht mehr laufen, wollte auch nicht mehr.
»Wohin fahren Sie?«, fragte sie den Mann.
»Nach Berchtesgaden«, antwortete er und sie überlegte. Die Buchstaben des Nummernschildes waren doch aus Bergisch Gladbach, und Berchtesgaden lag doch dort, oder nicht? Obwohl sie sich nicht sicher war, beschloss sie, es zu versuchen.
»Kann ich mitkommen?«, fragte sie und er sah sie erstaunt an. Ihre Gedanken kreisten nur noch um BGL, das Kennzeichen der Frau. Bergisch Gladbach. Natürlich konnte sie sich vorstellen, wie viele Menschen dort lebten, trotzdem, sie würde diese Frau finden. Sophia öffnete ihren Rucksack und begutachtete den Inhalt so, dass der Fahrer es nicht sehen konnte. Denn er durfte natürlich nicht sehen, dass sie ihr Geld und alles noch bei sich hatte. Sie hatte ihre Karte dabei, Bargeld und den Ausweis. Nichts und niemand könnte sie von ihrem Plan abbringen, denn sie hatte nichts mehr zu verlieren. Alles, was ihr je wichtig gewesen war, war verloren, gestohlen.
»Ja, du kannst mitkommen. Entschuldige, darf ich dich dutzen?
„Ja, natürlich“, antwortete sie. 
„Was willst du dort in Berchtesgaden?«
»Ich will die Frau finden. Sie hatte ein Bergisch Gladbacher Kennzeichen. Ich werde dort zur Polizei gehen«, antwortete sie und fühlte sich gut. Ja, sie würde die Frau finden und sie würde es ihr heimzahlen. Etwas mehr als eine Stunde dauerte die Autofahrt, die sie mit Small Talk verbrachten. Der Mann, der Tom hieß, war nett. Er war ganz normal und anständig, hatte einen Sohn, wie er ihr erzählte, und sie stellte sich ihn als guten Vater vor. Sie hatte ihren nie kennengelernt, was ihr nichts ausgemacht hätte, wäre ihre Mutter da gewesen. Doch irgendwann war diese dem Alkohol verfallen und ab da war Sophia allein. Das Schnarchen der betrunkenen Mutter, die Männer, die sie mitgebracht hatte, konnten die Einsamkeit in ihrem Herzen nicht stillen. Denn keiner hörte ihr zu, niemand interessierte sich für sie.
»Hier ist die Polizeistelle, hier kannst du Anzeige erstatten«, erklärte ihr Tom und riss sie aus den Gedanken.
»Kommst du von hier?«, wollte sie von Tom wissen und er nickte. »Ja, da drüben, auf dem Hügel. In dem kleinen Ort lebe ich.« Sie sah hinüber, die Sonne schien auf die grünen Wiesen und sie konnte es sich bildlich vorstellen, wie seine Familie dort lebte. Glücklich, liebevoll, in einem schönen Haus.
Sie nickte, dann stieg sie aus und ging in die Polizeiwache, trat ein und wurde von einem kahlen Gang empfangen. Links war eine Art Rezeption, wenn man das so nennen konnte. Ein Glasfenster, dahinter zwei Polizisten. Beinahe wäre sie hingegangen, hätte in das kleine Loch im Glas gesprochen und ihre Geschichte geschildert. Wie so oft in ihrem Leben. Doch sie entschied sich dagegen. Entschlossen drehte sie sich um, sah durch die Glastür Tom wegfahren und trat wieder hinaus. Die Sonne blendete sie und sie sah sich um. Jetzt war sie also in Berchtesgaden. Hier irgendwo lebte diese blonde Frau, die ihr Leben zerstört hatte. Das Auto würde sie erkennen, es war dasselbe wie vor fünf Jahren. Das könnte sie beschwören. Ein Mercedes. Nicht das neueste Modell, wie ihr die Polizisten damals mitgeteilt hatten.
Wie sollte es nun weitergehen, frage sie sich. Sie brauchte eine Übernachtungsmöglichkeit, denn sie würde hier viel Zeit verbringen. Vermutlich wieder Jahre. Aber irgendwann würde sie die Frau finden, da war sie sich sicher. Und dann würde sie sie zur Rede stellen. Sophia sah sich um und entdeckte eine Touristeninformation, auf die sie zusteuerte.
»Ich suche eine günstige Übernachtungsmöglichkeit«, erklärte sie dem jungen Mädchen, das hinter dem Tresen stand.
»Es gibt in Berchtesgaden sehr viele Unterkünfte. Wenn Sie was Günstiges suchen, dann ist eine Pension das Richtige. Möchten Sie im Zentrum sein oder lieber auf einer der Bergstationen?«
»Lieber hier im Ort«, entgegnete Sophia.
Das Mädchen gab ihr eine Karte mit, in die sie mehrere Pensionen eingezeichnet hatte, jede hatte Zimmer frei. Und eine davon hatte die perfekte Lage. Direkt gegenüber der Gemeinde, eines Supermarktes und des Kindergartens. Alles war gut zu beobachten von hier aus. Als Sophia die kleine Pension betrat, roch es nach Nässe und Feuchtigkeit, oder besser gesagt nach Moder. Sophia konnte den Geruch nicht wirklich deuten und sah sich um, niemand war zu sehen oder zu hören.
Dann endlich nach einigen Minuten und unzähligen »Hallo«-Rufen kam ein alter Mann auf sie zu.
»Ich suche ein Zimmer. Am bestens eins hier raus«, sie deutete mit der Hand auf den Platz vor der Pension.
»Meine Tochter ist nicht da. Aber wir haben noch ein Zimmer im dritten Stock frei, das in diese Richtung geht. Aber Mädel, die Bezahlung musst du dann mit der Tochter abklären. Gell, lass mir deinen Ausweis da, dann passt das schon«, Sophia konnte ihr Glück kaum fassen, als sie von dem Mann in ihr Zimmer geführt wurde. Der Alte sah sie intensiv an, was ihr ein mulmiges Gefühl verursachte, schnell blickte sie wieder zu Boden. Blickkontakt konnte sie noch nie gut halten.
»Was suchst du denn bei uns?«, fragte der alte Mann, und sie fühlte sich ertappt. »Nun, gut. Ich lasse dich ja schon allein. Komm am Abend zu meiner Tochter, dann kannste zahlen.« Dann drehte er sich um und ging hinaus. Der Schlüssel steckte noch in der Tür und Sophia schloss sofort ab.
Sie atmete erleichtert aus, als sie endlich allein war. So viele Gefühle schossen ihr durch den Kopf. Müde und ausgelaugt setzte sie sich aufs Bett und schnaufte durch. Für heute wollte sie es gut sein lassen, zu viel war geschehen, zu viel Unruhe war in ihrem Körper. Ihre Augen fielen ihr beinahe zu, als sie das Fenster öffnete und danach mit ihren ganzen Klamotten aufs Bett fiel.
Einige Stunden Schlaf würden ihr guttun. Doch wie immer schreckte sie aus dem Traum empor, nur wenige Minuten nach dem Einschlafen. Sie sah sich selbst auf der Schnellstraße, umgeben von dem Wald. Dann fuhr der weiße Wagen vor, die Sterne über ihr leuchteten und dann sah sie die roten Augen der Frau im Wagen und wachte auf. Schweißgebadet fing sie an zu heulen. Diese Nacht vor fünf Jahren hatte alles zerstört. Einfach alles.