Mordsvertrauen
Prolog
Sie zitterte am ganzen Körper, obwohl es extrem warm war. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie hatte Fieber, fühlte sich kraftlos und hatte überall Schmerzen. Sie war zu weit gegangen, viel zu weit. War geflüchtet und hatte doch nicht fliehen können. Sie hatten sie aufgespürt, genau das war es, was sie konnten. Menschen finden – oder verschwinden lassen. Und nun war sie verschwunden und eventuell würde niemand nach ihr suchen. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie sich auf ihn verlassen konnte, oder? Das fragte sie sich schon die ganze Zeit. Was, wenn er ihr nicht helfen wollte oder konnte? Zumindest war Tim sicher, ihr kleiner Tim. Sie hoffte, es würde ihm gut gehen und sie würden ihn nicht finden. Aber wie sollten sie? Nein, er war in Sicherheit. Zumindest das hatte sie geschafft. Sie hatte ihren Tim in Gefahr gebracht, dafür würde sie sich ein Leben lang hassen. Sie hätte aufhören, aufgeben können, aber das konnte sie nicht. Denn es ging um Menschen, um Töchter von jemandem. Sie war auch jemandes Tochter, sie hatte alles riskiert und würde nun ihr Leben dafür lassen müssen. Aber auch das war egal, wenn Tim in Sicherheit war.
Zu gern würde sie Horst fragen, ob alles gut war. Aber sie konnte nicht, würde sterben, ohne zu erfahren, wo und wie Tim wirklich lebte. Sie bekam einen Kloß im Hals und verspürte wieder diese erbärmliche Angst, die nur eine Mutter fühlen konnte. Ihr Herz lebte irgendwo ohne sie weiter. Hoffentlich würde er glücklich werden, ohne sie. Horst wusste nicht, wie man mit Kindern umging. Wie auch? Aber nur ihm konnte sie Tim anvertrauen. Sie hoffte, er würde sich um ihn kümmern. Tim würde nach ihr fragen, nach ihr weinen. Er brauchte doch noch sein Fläschchen und seine Kuscheltiere in der Nacht. Sie wusste genau, wann sie ihm was in die Hand geben musste, um ihn zu beruhigen. Er würde sich wundern, wo sie war. Anfangs noch, dann würde er sie vermutlich irgendwann vergessen. Wieder ein Stich im Herzen. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, denn sie wollte nicht sterben. Wollte ihren Sohn nicht in dieser erbärmlichen Welt zurücklassen. Aber sie hatte keine andere Wahl. Lieber sie als er.
Die Hütte, in der sie sich befand, war irgendwo im Nirgendwo. Sie war allein, zumindest in diesem Raum, der, wäre es nicht so ein erbärmlicher Anlass, einfach wunderschön war. Die Hütte war wundervoll, wäre sie nicht eine Gefangene. Sie wusste nicht, wo sie war, aber zumindest hatte sie ein Bild vor Augen. Irgendwo in Bayern oder Österreich war sie. Sie sah die Landschaft, die Berge, die Wiesen. Keine anderen Häuser waren um sie herum, nur Wälder und Wiesen. Ein wundervoller Ort, aber nicht in ihrer Situation. Sie war gefesselt, ihr Mund war verklebt, aber sie konnte zumindest aus dem Fenster blicken. Ein paar Hundert Meter weiter unten, führte ein Weg entlang. Nur wenige Wanderer kamen vorbei, aber niemand verirrte sich hier hoch zu dieser abgelegenen Hütte. Sie hatte ihre Angreifer, ihre Entführer gesehen. Ihren Peinigern war es offenbar egal, denn sie würden sie sowieso töten. Sie hatte sie gesehen, kannte ihre Gesichter und sogar ihre Namen. Wusste, wessen Söhne sie waren. Wusste alles. Genau deshalb war sie hier. In einer einsamen Bergwelt, voller Wald, dahinter Gebirge. Irgendwo in Europa, genau wusste sie es nicht. Dann schloss sie die Augen.
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