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Verstrickungen
Stefanie
Stefanie quälte sich aus
dem Bett, fasste sich an die Schläfe und massierte den pochenden Punkt, der ihr
seit Tagen Schmerzen bereitete. Seit dem Verschwinden von Sophie bekam sie kaum
mehr als zwei Stunden Schlaf pro Nacht und die waren unruhig und voller Qual.
Es war kurz nach sieben an einem Sonntag, der so trüb und grässlich zum Fenster
reinschaute, dass es Stefanie graute, einen Schritt aus dem Bett zu wagen. Ihr
erster Weg führte sie ins Badezimmer, in dem sie sich ihr blasses, mit Pickeln
übersätes Gesicht ansah. Sie hatte mal wieder vergessen, sich abzuschminken,
von daher sah sie noch schlimmer aus als sonst. Außerdem machte ihr ihre
Neurodermitis immer mehr Probleme. Sie sah schlimm aus. Für ihre Mitte dreißig
konnte man sie heute auf gut zehn Jahre älter schätzen. Noch während sie sich
die Zähne putzte, hörte sie neben sich ihr Handy vibrieren. Stefanie war ein
Handy-Junkie. Hatte es sogar auf der Toilette dabei, war auf allen
Social-Media-Plattformen unterwegs und liebte es. Ihr Boss, verdammt, was
wollte der denn, dachte sie sich und sah zur Uhr. Alles noch im Rahmen, er
wusste, dass sie öfter mal ein paar Minuten zu spät in der Dienststelle
erschien. Der Fall mit dem vermissten Mädchen setzte allen zu. Sie arbeiteten
fast rund um die Uhr, doch es war schon zu viel Zeit vergangen. Die Chance, sie
lebend zu finden schwand mit jeder Stunde.
»Horst, guten Morgen. Ich
bin beim Zähneputzen. Was ist los?« Horst und Stefanie hatten ein
freundschaftliches Verhältnis. Auch die eine Nacht nach der Betriebsfeier vor
einigen Jahren hatte daran nichts geändert.
»Wir haben eine Tote.«
»Das Mädchen?«, keuchte
sie ins Telefon und spukte nun die Zahnpasta aus.
»Nein, eine Frau. Mord,
eindeutig.«
»Wieso eindeutig?«
»Der Mord war live im
Internet zu sehen.«
»Wie bitte?«
»Ich erkläre dir dann
alles. Wir treffen uns direkt dort. Ich schicke dir die Adresse durch.«
»Geht klar, bis gleich.«
Schnell schlüpfte sie in
die Jeans und das Shirt vom Vortag und schnappte sich einen Latte aus dem
Kühlschrank. Noch so eine Sucht, die sie nicht in den Griff bekam. Während sie
ihre Stahlwendeltreppe nach unten hüpfte, schlüpfte sie in ihre Lederjacke und
war wenige Minuten später in ihrem Wagen. Noch ein Blick in den Spiegel,
verdammt die Neurodermitis um die Augen wurde immer schlimmer. Auch wenn sie
nicht allzu eitel war, so hasste sie es, so fertig auszusehen.
Sie gab die Adresse in
ihr Navi ein, denn sie kannte sich hier auf dem Land immer noch nicht wirklich
aus. Laut Navi würde sie dreißig Minuten fahren, in ein kleines Dorf außerhalb
der Stadt.
Sie startete den Motor
und schüttelte den Kopf. Ein verschwundenes Mädchen und eine tote Frau. Sie
wusste noch nichts über die Tote, aber für so ein Kaff hier in Bayern war das
Ganze schon recht viel auf einmal. Zuerst passierte Jahre nichts, und nun zwei
Fälle auf einmal, die Aufmerksamkeit mit sich brachten.
Sie dachte über die Worte
ihres Kollegen nach. Der Mord war live im Internet zu sehen. Das war mal was
Neues, verdammt.
Eine halbe Stunde später
fuhr sie in einen hübschen Ort namens Kirchdorf. Moderne Häuser, teure Autos
vor den Türen, so wie man es von Bayern kannte. Zumindest kam es Stefanie seit
fünfzehn Jahren so vor. Sie selbst stammte aus einem bürgerlichen Elternhaus
mitten in Berlin. Doch das Stadtleben war nichts für sie, auch nicht, nachdem
sie zur Kommissarin aufgestiegen war. Sie wollte raus, bewarb sich überall und
landete schließlich in Niederbayern.
Von Weitem sah sie
bereits die Absperrungen und die Polizeiautos, aber kaum Schaulustige. Gut, um
diese Uhrzeit waren wohl die meisten Leute in der Arbeit. Was gut war. Sie
hielt direkt vor der rot-weißen Absperrung und begrüßte die Polizistin, die vor
dem Haus stand.
»Guten Morgen.«
»Morgen«, sagte Stefanie
kurz und knapp. So war sie. Sie hasste Small Talk, wollte immer gleich zum
Punkt kommen.
Das Haus fand Stefanie
wunderschön. Die Auffahrt war im alten Stil gehalten, während das Haus total
modern war. Viel Glas, viel Weiß. Hier wohnten Leute, denen es finanziell
sicher gut ging. Dann sah sie die Schaukel im Garten und ihr wurde mulmig. Es
gab also Kinder.
Noch wusste sie nicht,
welche Person tot war, aber sie hatte eine böse Vorahnung.
Horst war noch nicht da,
wie sie feststellte. Sie unterhielt sich mit dem Polizisten, der als Erster
hier angekommen war. Er führte sie durch einen Flur, der etliche Familienbilder
an den Wänden zeigte, während er ihr den Sachverhalt schilderte.
»Die Tote ist die Mutter
der Familie, Susanne Winter. Sie lebt hier mit ihren Kindern Lilly und Konrad.«
»Ohne Vater?«
»Der ist ausgezogen, noch
nicht so lange her. Das hat die Nachbarin erzählt.«
»Ihr habt schon Leute
befragt?«
»Ja, einige, wir sind
schon eine Weile hier.«
»Weiß man die
Todesursache?«
»Ja, sie wurde
erschossen.«
Stefanie sagte nichts
mehr, denn sie sah die Leiche einer Frau vor sich, die am Boden lag, eine Lache
voller Blut um sie herum. Die Spurensicherung war bereits hier, hatte aber noch
nichts verändert.
»Guten Morgen, Stefanie.«
Philipp und Stefanie kannten sich von früheren Fällen. Er wusste, wie sie
vorging, und hatte auf sie gewartet.
»Sollen wir rausgehen?«
»Ja bitte«, antwortete
Stefanie. Sie wollte den Tatort allein begutachten, das machte sie immer. Ein
paar Minuten allein mit dem Opfer und sie bekam eine Ahnung von dem Leben, das
die Toten geführt hatten. Ein wenig Umschauen im Ort des Geschehens, und sie
konnte sich besser in den Fall hineinfühlen. Sie schloss oft die Augen, sog die
Luft ein und dachte sich in das Leben der Opfer oder in das der Täter hinein.
Es fiel ihr leicht, sich in andere hineinzuversetzen. Sie wollte noch nie gern
sie selbst sein. Nein, schon immer sehnte sie sich nach einem anderen Leben. So
hatte sie die Möglichkeit, Personen kennenzulernen, die krank, panisch, naiv
oder tot waren. Sie liebte es, die Gesichter zu erforschen, das Verhalten zu
analysieren. Genau darin lag ihre Stärke. Und doch war sie nur in der Provinz
gelandet, zu mehr hatte es doch nicht gereicht.
Plötzlich war es ganz
still um sie herum, sie hörte nichts mehr, war völlig bei dem Opfer. Sie konnte
das Gesicht der Frau nicht sehen, vermutete aber, dass sie eine schöne Frau
war. Lange Haare, gute Figur, teure Kleidung. Das Wohnzimmer, in dem sie sich
befand, war großzügig, aber sehr kühl. Alles in hellen Farben. Die Gartentür
stand offen. Von dort, vermutete Stefanie, musste der Täter gekommen sein.
Nichts deutete auf einen Kampf hin. Sie ging zur Tür und trat hinaus, die Sonne
schien, es würde ein wundervoller Tag werden. Dann drehte sie sich um und
fühlte sich in den Täter hinein. Sie sah das Stativ mit einem Handy darauf,
dahinter die Leiche. Die Tür hatte zur Tatzeit offen gestanden, denn es waren
keine Glassplitter zu sehen. Sie trat erneut durch die Tür und ging auf die
Leiche zu, bückte sich und fragte laut: »Was hast du nur getan, um so zu
sterben?« Sie war sich sicher, das war kein Einbruch. Die Tat hatte ein
persönliches Motiv. Sie hatte einen guten Riecher für solche Dramen.
Dann erschien Horst
hinter ihr und sie erschrak, da sie zu sehr in ihren Gedanken versunken war.
»Morgen, Stefanie. Was
haben wir?«
Während Stefanie
berichtete, was sie wusste, machte sich Philip von der Spurensicherung an seine
Arbeit.
Der Polizist von vorhin
tauchte wieder auf.
»Wer hat die Leiche
gefunden?«, fragte Horst ihn.
»Die Tochter.«
»Ist sie hier?«
»Ja, sie sitzt im
Krankenwagen, ist ziemlich mitgenommen.«
»Wie alt ist sie?«
»Ein Teenager, keine
Ahnung, wie alt sie ist.«
»Soll ich mit ihr
sprechen?«, fragte Stefanie.
»Ja, wäre mir lieber. Ich
mache hier weiter«, sagte Horst.
»In Ordnung.«
Und in dem Moment, als sie nach
draußen gehen wollte, fiel ihr im Augenwinkel etwas auf. Sie musste einen
Schritt zurückgehen und noch mal genauer hinsehen. Sie kniff die Augen zusammen
und begutachtete den Fotorahmen, in dem Schnappschüsse zu sehen waren. Es war
unglaublich, aber eindeutig.